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ZUG NACH CHOUM Pdf Version
von Brigitte Uttar Kornetzky
©
Brigitte Uttar
Kornetzky 2006
Nouadhibou, die Hauptstadt im Norden Mauretaniens, verstaubt und
geschäftig, liegt am Ende einer langgezogenen Halbinsel, die
sich
wie ein mahnender Finger zwischen den gestrandeteten Schiffwracks der
Russen ausstreckt.
Wir haben beschlossen, den Zug von Nouadhibou nach dem schnurgerade
fünfhundert Kilometer östlich gelegenen Choum zu
nehmen, und
sind mit dem Nötigsten gerüstet: zwei Wolldecken,
warme
Kleidung, Brot, ein Paar Früchte und 5l Trinkwasser.
Die Dimensionen sind aus dem Rahmen gefallen.
Zweieinhalb Kilometer, von Horizont zu Horizont, erstreckt sich der
Frachtzug mit eingeschränkter
Personenbeförderung. Die Leute behaupten, es sei der
längste
Zug der Welt, mit Sicherheit aber der langsamste. Ganz vorne die
türkisblaue Lok mit zwei Waggons, am Ende zwei weitere Waggons
für die Reisenden, wie uns später erst klar wurde,
mit
unterschiedlicher Preiskategorie. Dazwischen befinden sich mit
Eisenschlacke beladene Waggons, die hunderte von Kilometern durch die
Sahara holpern. Nichts ahnend steigen wir mit einstündiger
Verspätung in einen der beiden Grossraumwaggons. Die Fenster
sind
teilweise nicht mehr vorhanden, das Glas wurde vielleicht
anderweitig gebraucht, der Saharawind schneidet scharf die
Kanten. Die Menschen verabschieden sich. Eine letzte Umarmung, etwas
Geld, das schnell noch zugesteckt wird, noch eine durchs Fenster
gereichte junge Ziege im Sack, wie die bis zu letzt gehaltene Hand. Ein
Frau zieht einen Schuh vom Fuss, den sie zuerst hinter ihrem
Rücken versteckt hält, um ihn bei Abfahrt des Zuges
gegen das
Abteil zu schleudern; eine Geste, die mich ob ihres
Rätselcharakters noch lange beschäftigt; quietschend
setzt
sich der lange Wurm in Bewegung, lässt all die Verbindungen
hinter
sich. Im gut mit dreissig Personen und endlos vielen
Gepäcksäcken übersääten
Abteil finden wir
Platz gegen Fahrtrichtung, die etwas Windschutz bietet. Da die beiden
Personenwaggons am Ende des Zuges angehängt sind,
bläst der
Wind kräftig von den oberen Wipfeln mit Schlacke vermischten
Sand
in die Waggons. Die Mauretanis sitzen und liegen auf ihren
Säcken
mit ihren Kindern und Babys dazwischen, es herrscht eine erstaunliche
Friedlichkeit und harsche Disziplin in diesen rauhen Gesichtern, die
uns aus den schmalen Augenschlitzen unablässig mustern. Sie
haben
alles unter Kontrolle.
Nach einigen Stunden, im Halbdunkel, löst sich die gehaltene
Stimmung in nervöse Geschäftigkeit, die sich bald als
Teestunde zu erkennen gibt. Der Mauretanische Champagner, wie ihn stolz
die Berber nennen, ist ein mit mindestens fünfhundert Gramm
Zucker
angereicherter viertel Liter Flüssigkeit, ich nehme an Wasser,
in
dem ein Minzblättchen schwimmt. Der kochend gelbe Sud wird
schwungvoll von einem Teeglas ins andere gekippt, bis das ganze
schaumig geschlagen, herumgereicht und genussvoll mit kleinem
abgespreiztem Finger gekippt wird.
Unser Haar ist ohne die traditionelle Kopfbedeckung, steif vom
Sandstaub; tonlos verknotete Mikadostäbchen mit Fingern nicht
zu
glätten. Der Rücken federt schmerzlich gegen die
Eisenplanken. Sitzen wird von Stunde zu Stunde mehr zur Qual. Die
Schläge werden härter, Eisen auf Eisen, in
unerbittlicher
Rhythmuslosigkeit. Fahl und verwegen mustern uns dreissig Augenpaare.
Wir sind angekommen am Ende der Welt, von er man uns erzählt,
dass
das nur der Anfang sei. Hinter der mehlweissen Luft beginnt
Schwarzafrika. Was machen die hier? Wo kommen die her? Aber keiner sagt
was, fragt was. Jeder ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt
und
wohl damit, die Energieen aufrecht zu halten, an denen Wind und
Wüste unerbittlich zehren.
Am Ende des Waggons schaukelt eine Kerze in einer Plastikflasche unter
der Decke, bis niemand sie mehr austauscht, upside down. Der
Sternenhimmel fällt in den Sand. Alles schläft, nur
wir
nicht. Die Lautstärke des sich vorwärts schiebenden
Zuges hat
die zulässigen Dezibel meines Kopfes bei weitem
überschritten. Mein Hirn eine einzige tumbe Masse Substanz.
Mit
den Knieen einen automatischen Schockabsorber für die Kamera
simulierend, die in einer grossen Plastiktüte ihr erstes
Trauma
überstehen muss, wippe ich mit den Fussgelenken dem holprigen
Rhythmus des Waggons entgegen. Wir haben noch die halbe Wegstrecke vor
uns, insgesamt fünfhundert unvergessliche Kilometer.
Irgendwann stoppt der Zug. Ich lehne aus dem Fenster. Die aufblitzenden
Lichter des entgegenkommenden Zuges lassen die Betenden im Sand
aufspringen. Tanz mit dem Wind, dem Sand, den Tüchern, alles
schemenhaft verstaubt. Mit der Geschäftigkeit des Betens kehrt
Stille ein. Für Momente ist mein Geist hellwach, der Geruch
nach
Zigaretten und Kautabak, aufgepeitscht vom eindringenden Wind,
schlägt uns ins Gesicht, bis erneut das Holpern des Zuges
jegliche
Gedanken lahm legt. Der Waggon sinkt in tiefen Schlaf.
Irgendwann ist endlich. Ein Mann weckt die Schlafenden und ruft Choum, Choum.
Grosse Erleichterung,
man rüstet zum Aufbruch. Wir sind da, angekommen in einem
Nichts,
bestehend aus Dunkelheit und verwehten Gestalten. Die Füsse
fassen
festen Boden, die Gedanken einen ersten Halt an den blinkenden Jeeps;
ob die auf uns warten, uns abholen wollen? Tatsächlich
springen
schwarze Männer aus den Türen und bieten Taxi-und
Guidedienste an nach Atar, 3000 Oguya pro Person. Die
zweistündige
Fahrt, kaum angetreten, endet nach ein paar hundert Metern. Wir werden
aufgefordert, umzusteigen in einen Sammeljeep, von dem ich glaubte,
dass dies bereits einer sei --, der keineswegs grösser ist.
Wir
sitzen zu elf Personen zusammengepfercht und absolut unbeweglich, als
noch zwei weitere Personen zusteigen sollen. Das ist zuviel. Phil
explodiert. Für die Kamera ist das unmöglich, wir
brauchen
extra Platz. Wir wollen den Sitz bezahlen, was in einem heftigen Disput
ausartet. Bevor die Situation eskaliert, ziehen wir uns aus der
Affäre zurück. Wir verbringen die Nacht ausserhalb
des Dorfes
in der Wüste, unter freiem Himmel.
Es ist kalt, wir haben uns zusammengerollt auf einer losen Decke unter
der Milchstrasse. Die wenigen Stunden Schlaf bis zum Morgengrauen sind
nicht genug, um das Schütteltrauma aus den Knochen zu
schlafen.
Der Morgen ist weisslich. Wir erwachen in einem mit Dosen,
Müll
und vertrockneten Schlachtabfällen
übersääten Feld
am Rand des Dorfes, das uns den Rücken kehrt, und werden, wie
könnte es anders sein, bereits von Ferne auf unserer
nächtlichen Decke bestaunt wie ein fehlgelandetes Ufo auf
einem
fliegenden Teppich. Gleichermassen trostlos blicken wir mit unseren
sandgestrahlten Augen zurück auf das Dorf, das sich
allmählich aus der Dämmerung schält wie jene
Frau, die
plötzlich gegen den Wind gelehnt in wehenden Tüchern
wortlos
vor uns steht, und die ich später wieder erkenne als die
Tochter
unserer Wirtin.

Und sie kam nicht allein. Im Schutz ihrer wehenden orangefarbenen Toga
lugen fünf schwarze Augenpaare neugierig auf uns
Neuankömmlinge. Allmählich werden ihre Gesten und
Lautmalereien bestimmter und zutraulicher, tänzeln einen
"Dingdäng-Song" als perfekt gelispelten Kanon in den Sand, in
den
ich ermunternd einstimme, und der abrupt abbricht. Ein Kind hebt einen
Mandarinenschalenkringel weit über seinen Kopf hinaus direkt
unter
meine Nase. Die Frucht dieses seltenen Fundes hatten wir wenige Minuten
zuvor gefrühstückt. Das Kind gibt uns mit ernster
Miene und
eindeutig zu erkennen, dass es gerne eine Mandarine hätte. Mit
dem
Ausdruck grossen Bedauerns ziehe ich einen verklemmten Apfel aus der
Kameratasche hervor, der sofort Objekt weitaufgerissenen Staunens wird.
Das Kind scheint die Grösse des Apfels mit dem eigenen Mund
messen
zu wollen. Die weissen Zähne blitzen waffengleich in der
gleissenden Sonne, aber es beisst nicht hinein. Es scheint den Duft
einzuatmen, den Baum, die Blüten, die es noch nie gesehen hat.
Der
Apfel macht die Runde, dient wie ein Stein als Wurfgeschoss, bleibt
liegen in der Hand, die sich zur Drohung erhob, bis sein Arm mit
heftigen Bewegungen sich wie ein Jungvogel aus dem Nest einschwingt in
den Dingdäng-Song, den weich wiegend der Wind
fortträgt
über den schwarzen Kontinent.
Zusammengerollte Ziegenhaut hüpft über den
Saharaboden, die
wenigen Büsche in Sturmrichtung gekrümmt. Am
kleinsten
Widerstand verfangen sich Plastikfetzen aller Farben und Herkunft. Der
Kopf des verkrusteten Kamels, an dem die Krähen ein letztes
Stück Leben herauszubrechen suchten, liegt einige Meter
entfernt
vom Rumpf. Die Wüste nagt unerbittlich an Mensch und Tier.
Die Auskünfte, wann der nächste Zug kommt,
könnten
heterogener nicht sein, abhängig davon, wer zuletzt die
neusten
Nachrichten übers Dorfradio empfängt. 18 Uhr, 22 Uhr,
23 Uhr.
Will man uns hier behalten, beobachten, um möglichst von Nacht
zu
Nacht die Courtage zu erhöhen? Nachdem in dem Polizeiposten,
einer
Hütte aus Lehm und Plastiktüten am Dorfrand
aufgeschlagen,
unsere Pässe registriert wurden und man uns
nachdrücklich zu
verstehen gibt, dass Filmen unerwünscht ist, hat man uns ein
Restaurant am anderen Ende des Dorfes empfohlen, das wir dankend
ansteuern. Ein Kind hilft uns durch das Dorf navigieren, das aus zwei
langgezogenen Gebäudereihen besteht, mit einem grossen freien
Platz in der Mitte. Wir fragen erneut nach dem Restaurant, als es
bereits einbiegt in den Schoss einer freundlichen alten Frau, die im
Eingang eines der Lehmhäuser ausgestreckt liegt, umringt von
Kindern und Fliegen. Zwei ihrer Grosskinder sind fiebrig, die Kinder
jener Frau, der wir am Morgen vor dem Dorf begegnet sind. Im Dorf und
der näheren Umgebung von einhundertzwanzig Kilometern gibt es
keinen Arzt. Was dich nicht umbringt, stählt dich, versuche
ich
positiv zu denken, drücke aber erstauntes Bedauern aus. Aus
dem
einzigen Spielzeug im Raum tönt unablässig der
Dingdäng-
Song, den ich endlich als "Frère Jacke, Frère
Jacke,
dormez vous" erinnere, während das Kind seinen Daumen auf der
Repeattaste geparkt zu haben scheint. Derartige Trompetentöne
und
das hohe Fieber scheinen seine Energieen vodooartig zu bannen, so dass
es nicht einmal gepeinigt scheint von den Fliegen, die Gesicht und
Hände übersähen, und weiterhin
gläsern und tonlos
durch uns hindurch starrt. Im hintersten, weit offenen Raum des
Lehmhauses liegt der ersehnte Ruheteppich. Nachdem der erhoffte
Ermunterungsschub auf den mauretanischen Tee hin ausbleibt, strecken
wir uns einige Stunden ungestört aus, aber anstelle von
erquickendem Schlaf starre ich auf die aus Stücken
ausgerissener
Eisenbahnschienen und Reissäcken gezimmerte Decke. Die
Stabilität, die diese ausstrahlt, beschwört
zwangsläufig
alle Sciroccos am Horizont meines Kopfes herauf, die sich ein
gebeuteltes Hirn in dieser gottverlassenen Gegend ausmalen kann.
Die Nacht ist eingebrochen. Da wir unsere Wirtin für
Ruheraum und Tee bereits entlohnt haben und auch sonst in einer nicht
gerade kontaktfreudigen Stimmung sind, verlassen wir das Haus durch die
Hintertür, und stehen in wenigen Metern vor dem Zug, der
soeben
eintrifft; aber es scheint bereits zu spät. Wir rennen den Zug
entlang, der sich rechts wie links im dunklen Horizont verliert. Ganz
klar: keine Chance. Ein Mann mit fuchtelnden Handbewegungen
gestikuliert mich zwei Meter auf die steilen Waggonstufen hinauf. "no"
rufe ich entschieden, und steige trotzdem weiter. Über den
Waggonrand hinaus türmt sich die Eisenschlacke rechts und
links
wie eine schwarze Gebetskette. "nein" brülle ich hinunter,
"das
ist die leibhaftige Hölle". Der Zug setzt sich langsam in
Bewegung, der das ganze binnen Minuten in ein sicheres Inferno
verwandelt, und springe ab. Wir kehren zurück zu unserer
Wirtin,
die bereits sich an gleicher Stelle, wie sie uns Tee zubereitet, zur
Nachtruhe ausgestreckt hatte, und erfreut und verwundert über
das
Glück unserer Rückkehr mit ihrem Mann den Preis
für die
Nacht aushandelt. 3ooo Oguya gibt uns ihr Mann zu verstehen. Wir
akzeptieren kommentarlos, erkennen im Dunkel, dass ihm eine Landmine
eine Hand und einen Fuss weggesprengt hatte, und schleichen
zurück
in unsere Lehmkammer.
Am nächsten Tag flüchten wir in die Wüste,
um unser
Frühstück, etwas Brot und eine Gurke, ohne von
Fliegen und
Kindern umringt zu sein, einzunehmen. Ab drei Uhr nachmittags, um die
seltene Gelegenheit nicht zu verpassen, warten wir auf den Zug.
Endlich, nach Sonnenuntergang, langsam grösser werdendes Licht
am
Horizont. Nach weiteren vierzig Minuten des Wartens in schneidiger
Kälte der eingebrochenen Nacht besteigen wir den letzten
Waggon,
und diesmal ein anderes Abteil. Wir reisen im Dunkeln, mit hie und da
aufflackernden Feuerzeugen und Taschenlampen, die für kurze
Augenblicke unsere Gegenüber identifizieren, drei Frauen und
ein
Mann. Das Baby auf der Bank gegenüber schaukelt mit
Handybeleuchtung in grünlichterne Träume, aus denen
es
jäh geweckt wird: "mange, mange!", tönt die
unmissverständliche Aufforderung auf hartem
Französisch und
setzt Spotlight auf eine Schüssel gekochter Kartoffeln, die am
Boden des Abteils hin und her geschoben wird, und die ich vage
erinnere, in der Stationshütte habe Stunden vor sich hin
gaaren
gesehen. Gegessen wird mit den Händen, ein Ritus, den ich
schon
aus Gründen des Kamerahandlings verweigern muss; umso mehr
werde
ich abermals aufgefordert, mit samt dem gereichten Weissbrot und
fünf Fingern in den Reigen des Matschens und Katschens
einzustimmen, und die Kartoffeln zu erschaufeln, die in einer
undefinierbaren aber wohlschmeckenden Brühe schwimmen. Wir
bedanken uns für die überraschende Gastfreundschaft
und holen
unser restliches Brot hervor, reichen Stücke herum, die unser
Nachbar unter dem Schein der Taschenlampe und zu Füssen aller
eingehend mustert. Wie die Hände gesäubert werden,
bleibt in
der Dunkelheit, wie so manches ein Rätsel; aber die Frage
erstickt
im aufgeregten Gerede der Frauen, die sich in ungeheurer
Zungenwendigkeit üben, deren konsonant geschwängerter
Singsang wie ein aufgeregter Schwarm junger Stare, die in
süsse
Obstbäume einfällt, in der Luft steht, aufkreischend
und
wieder zusammensackend, und sich auch noch diagonal übers Eck
mit
der auf dem Boden im Gang niedergelassenen Frau verständigen,
die
ich mittlerweile als unsere Kartoffelköchin identifiziert
habe,
und die vor sich hin fluchend die drei Frauen unseres Abteils
gleichzeitig in Atem hält.
Es dauert nicht lang und mir wird schlecht. Der Saharaschnupfen, den
ich mir in dem eisigen Wind eingehandelt habe, macht mir noch nicht
klar, welchen Ausgang diese Übelkeit nehmen wird. In jedem
Fall
suche ich umgehend die Toilette im Waggon auf, davor bereits einige
Männer stehen und mir "femme, femme" entgegenrufen. Ich
verstehe,
glaube darin ein "Besetzt-zeichen" zu verstehen, und versuche klar zu
machen, dass ich eigentlich aussteigen will, um dem entsetzlichen
Gestank zu entkommen, da der Zug gerade anhielt. Aber das
stösst
wenig auf Verständnis. Um frische Luft zu erheischen und
für
das Schlimmste gerüstet zu sein, lehne ich zum offenen
Waggonfenster hinaus. Die Männer sind plötzlich
verschwunden,
der Weg zur Toilette frei. Ich weiss nicht mehr, wovon einem mehr
schlecht werden könnte, von der eigenen Ursache der
Übelkeit,
oder vom Gestank nach Urin im Flur. Als ich die schwimmende Toilette
betrete, absolut gepeinigt, wo den Fuss hinzusetzen, ist meiner
Übelkeit abgeholfen. Ich bin geheilt, und begebe mich nach
einer
kleinen notmässigen und unendlich umständlichen
Erleichterung
an meinen Platz im Abteil zurück.
Auf dem Boden ausgestreckt liegt die Mutter der Tochter des Babys
schlafend, wie auch, ausser meinem Mann, das übrige Abteil in
tiefen Schlaf gesunken ist. Ihrem leisen regelmässigen
Röcheln entnehme ich die hohe Kunst der Unbeirrbarkeit, die
sich
in den Rhythmus des eisernen Holperns eingebettet hat wie ins rauhe
Leben, welches sie dorthin geboren hat. Wir erproben eine weitere
ambulante Schlafstellung, jedoch ohne Erfolg; unsere
durchgeschüttelten Gehirne flehen vergeblich um Ruhe. Das
Delirium
wird zum Trauma. Der Morgen graut sich in den Sand. Das grosse
Glück des nahenden Tages steht bevor, der eine Ankunft
verheisst,
Schlaf und eine heisse Dusche.
Vor dem Ausstieg finden wir unsere Brotstücke auf dem Boden,
schwimmend in Urin. Für so manches, wie auch dieses, kommt die
Erklärung später. In der Unwissenheit, dass das Brot
selbst
gebacken ist, und also der Annahme, es sei marokkanisches Brot, bleibt
eine latente Kriegserklärung zu lesen: Brot und Feindschaft,
ein
ungleiches Geschwisterpaar, das sich neidet und meidet wie Kain und
Abel.
Am Mittag angekommen, geniessen wir wieder das erste
Frühstück in den eigenen vier Wänden unseres
Campers.
Todmüde und erschöpft bewegt sich das Hirn langsam an
seinen
angestammten Platz zurück. Schwarztee hilft, an die
fast
vergessenen Freuden der Zivilisation zu erinnern. Wir sind
durchgeschüttelt, unterkühlt. Kopf und Augen brennen;
aus der
Nase rinnt der Saharaschnupfen, in den Ohren tobt das fahrende Inferno
nach. Vor unseren Augen türmen die Dattelscheiche so allerlei
Geschäfte auf dem Campus; dicke Packen von Oguya, die schier
nie
versiegende Quelle mauretanischer Währung unter indigoblauen
Kaftans, verwandeln jede Mercedeshaube in einen Bankschalter, wo immer
sich die Gelegenheit bietet.
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DIE FLUT IN LAAYOUNE Pdf Version
von Brigitte Uttar Kornetzky
©
Brigitte Uttar
Kornetzky 2006
Rechts und links der vor wenigen Monaten fertig gestellten
Hauptverkehrsverbindung zwischen Marokko und Mauretanien hat sich die
überschwemmte Sahara in eine Deichlandschaft verwandelt. Ein
erstaunlicher Pflanzenteppich erstreckt sich weit zwischen den
glitzernden Brackwasser; für die Marokkaner die Inkarnation
einer
Fata Morgana, echt, grün und blühend. Seit
zweieinhalb Tagen
regnet es ununterbrochen. Was man nicht mit eigenen Augen gesehen hat,
mag man kaum glauben. Die Menschen stehen wadentief mit hoch
geknüpften Kaftans auf der überfluteten Strasse nach
Laayoune, mit der freien Hand nach einer Mitfahrgelegenheit winkend,
die sie in die nächstgelegene, hundert Kilometer
südliche
Stadt bringt.
In Laayoune ist der Ausnahmezustand ausgebrochen. Die Stadt steht unter
Wasser. Der ungewohnte Anblick ist selbst für die Marokkaner
ein
aussergewöhnliches Ereignis, das diesen Jahrhundertregen noch
über Generationen forterzählen wird.
Angekommen in der grossen Stadt schieben die Männer die
liegen gebliebenen Autos von der Strasse, nachdem jegliche
Startversuche missglücken, waten in dem knietiefen, braunen
Wasser, das aus allen Ecken und Rinnen hervorquillt, sich in den Senken
ansammelt mit allerlei Schwemmwerk, das Kinder mit ihren
Treträdern hin und her kicken, in spielerischer Missachtung
des
Ernstes der Lage. Das Wasser spült den Sand wer weiss wohin,
vom
schräg abfallenden Rinnsteig zum
nächsten
Hindernis und weiter an der Hauswand entlang, die quer zur
Stromrichtung steht, zurück in die Sahara; alles steht im
Austausch, im Fluss; ein nicht endendes Geschiebe und Gesprudel von
allem, was nicht niet und nagelfest ist. Ein Kind hüpft
barfüssig über das angesammelte Bretterwerk und
verschwindet
im Hauseingang. Den rudernden Bewegungen der Frau hinter der
Tür,
die weit offen steht, ist zu entnehmen, dass sie mit dem
angespülten Schlamm kämpft, angereichert mit dem
sperrigen
Schrott der Nachbarn, der Grund ihres Fluchens, während ihr
Mann
versucht, das Blechdach über ihrem Haupt zu sichern, indem er
die
verrutschen Blechstücke in die richtige Lage zurück
zu werfen
versucht; aber er muss in der Eile des heftigen Regens und der
drohenden Einsturzgefahr des Daches seine Brille verloren haben, da er
häufig sein Ziel verfehlt, und sich unsicher vorwärts
tastet.
Es muss kräftig ins Haus geregnet haben; die Dachabdeckung
hängt derart schief herab, sodass die lose aufeinander
gelegten
Blechstücke mit der aufgeweichten Pappe ins Rutschen und vor
dem
Hauseingang neben der entsetzt blickenden Frau für Augenblicke
zu
stehen kommen, bis die nächste Flutwoge die
Blechstücke
davonstösst. Eine der hinter der Häuserecke
hervorlugenden
Ziegen findet das eine passende Gelegenheit, endlich dem sandigen
Dasein zu entfliehen und Surfen zu gehen. Sie springt kurz entschlossen
auf eines der Bleche, landet, zuerst wankend mit den Vorderbeinen auf
einer Art Holzkiste, die auf dem Blech Halt gefunden hat, um dann im
sicheren Stand wie ein Kapitän in der eigenen Nussschale davon
zu
gleiten, den Blick stur nach vorn gerichtet in eine trockenere Zukunft,
gefolgt von lose treibenden Tomaten und Mandarinen, die den
Eindruck erwecken, als rolle die wie eine Gallionsfigur aufgestellte
Ziege einen Blütenteppich hinter sich aus, bis sie am
triefenden
Horizont unserem Blick entschwindet. Der Früchteteppich bleibt
aufgerollt am nächsten Hindernis hängen,
tänzelt hin und
her unter den immer tiefer hängenden Wolken und den endlos
geraden
Wassern, die das Ganze in Bewegung halten. Vor uns ist die
Pfütze
zu einem See angewachsen. Schwer abzuschätzen, wie tief. Ich
beginne zu messen, die Strassenbeleuchtung auf der linken Seite hat
einen sichtbaren, ellenhohen Sockel, der bei der Beleuchtung auf der
anderen Seite nicht mehr zu sehen ist. Das muss es sein. Knietief darin
watend bestätigt eine Frau meinen Ahnung, die sich langsam und
unbeeindruckt in den zu stehen gekommenen Wassermassen
vorwärts
schiebt, die Kleider am Körper klebend, auf dem Kopf
balanciert
sie ihren turmhohen Einkauf, gefolgt von fünf tobenden
Kindern,
die anstelle des staubigen Sandes das spritzende Element zu eigenem
Vergnügen herausfordern. Mein Blick verfängt sich an
zwei
runden schwarzen Punkten, die sich in nicht all zu grossem Abstand zur
Wasseroberfläche abheben, als sich einer davon
umstülpt, ein
glänzendes, vor Nässe triefendes Chinesengesicht zum
Vorschein kommt, das seinem Gegenüber gestikulierend die
Richtung
weist. Da lang, mit der verdrehten Spitze in Richtung Stadt deutend.
Die schwarzen Schirme scheinen einen würdigen Anlass gefunden
zu
haben, das sandige Dasein nach langer Standpause hinter verstaubten
marokkanischen Türen zu beenden. Nur Momente dauert es, und
einer
hebt ab und davon, gefolgt von dem hinter dem Schirm her stolpernden
Chinesen im blauen Arbeiteranzug, mit dem Lächeln einer ganzen
Nation im Gesicht und bis zum Gesäss durchnässt,
kämpft
er sich mit den kurzen Beinen durchs braune Wasser.
Der Regen lässt nach, die Wolken lichten den Mittag auf; die
Imame
schwingen ihre Rufe über die frisch gefallenen Wasser von
Laayoune. An der Häuserecke, hinter der die vorwitzige Ziege
ihren
Ritt auf dem Blechdach antrat, findet sich eine Menschenansammlung
zusammen, in heftige Diskussionen verstrickt, jedoch ohne einen
wahrnehmbaren Laut. Sie gestikulieren, die Schultern auf und ab
bewegend, stapfen sie mit den Füssen im Schlamm. Sie scheinen
den
Körper, der in der Rinne liegt mit dem Gesicht nach unten,
nicht
zu beachten, ein Arm über den Kopf nach vorn gebogen und
seltsam
verdreht die Hand. Die Hand eines Schwarzen, mit blassrosa schimmernder
Handfläche nach oben gewendet, und einem golden blitzenden
Ring,
aus der ein Bächlein glitzernder Sterne über das
flache
Wasser quillt; die langen offenen Finger gekrümmt, als wollten
sie
eine der schwimmenden Früchte greifen, liegt der
Körper
regungslos in den Wassern. Das dunkelblaue Hemd, gebläht vom
abwärts geneigten Strom, schiebt sich allmählich
über
das schwarze, kräuselige Haar. Phil dreht
gelangweilt am
Radioknopf. "Sittin on the dock on a bay..." tönt es in
unmissverständlicher Klarheit aus dem Empfänger,
dessen
Sendestation mitten im Atlantik auf den Kanaren aufgestellt ist, "
wastin`time..." Unglaublich, denke ich, ausgerechnet jetzt
dieser
Song von Marvin Gay. Er wurde von seinem Vater erschossen. Unweigerlich
sehe ich Bourbon Street vor mir, vergangenes Jahr, etwa zur gleichen
Zeit, während der grossen Überschwemmung.
Die Menschen in den Wassern waten von einem Bein auf das andere, setzen
einen Fuss vor den anderen, mit ihren Sandalen in den Händen
steigen sie barfuss im Kreis, und scheinen einen Gesang anzustimmen
neben dem regungslosen Körper, auf den ein gleisendes,
seltsames
Licht fällt; fluoreszierend, kaltfarben, gelbgrünlich
schimmernd, wie das Licht einer Bibliothek oder einer grossen, leeren
Halle, deren Raum erfüllt ist vom Schritt einer Person, die
diesen
Raum gerade verlässt. Sein Arm hat sich mittlerweile weit
über den Kopf hinaus gestreckt, wie schlafend, der Erde
ergeben
und dem Licht, weich ummantelt, umflutet von den scharfen Lichtkegeln
der Polizeischeinwerfer und der Presse in ihren weissen Hemden und
aufgeräumten Gesichtern und dem Bleistift hinterm Ohr. Jeder
der
Weisslinge hat einen handteller grossen Spiegel auf den Friedlichen
gerichtet, den sie in ihren behandschuhten Händen halten;
unberührt und teilnahmslos liegt er da, im Brennpunkt des
Geschehens der aufgeregten Reporter und Journalisten, im Weisslicht der
Weisslinge, die einen Blitzlichtregen eröffnen, und der
geifernden
Nachbarn, die ihre Tagesgeschäfte verhandeln; die Mitgift
für
die Hochzeiten ihrer Kinder, oder die neusten Nachrichten aus der
Wüste; lautlos und wie fern gesteuert, in dem kalten
flüssigen Sand, der sich anfühlt wie zähes
Blei, das zu
klumpen beginnt in den Taschen und Ärmeln des Friedlichen;
eine
Kälte, die das heisse, fluoreszierende Licht zusammenschrumpft
unter dem Mittelpunkt der Welt, das den Namen Allahs in den ewigen Sand
ruft über die drahtlosen Mikrophone, die
Martinshörner der
göttlichen Allianz, die an den Masten um ihn herum
aufgehängt
sind wie hechelnde Hunde, das Geschäft im Namen Allahs zu
verrichten, um ihm den Namen Allahs einzuschärfen wie das
Brandmal
an den Schläfen seiner Geburt, aus blauer Asche,
den Namen des Allmächtigen unter dem Gelächter der
Lichtsamen
und der Gesteine, aus Mutterglut und Marzipan in milchweisse Kamelhaut
eingenäht, den Namen des letzten Gesetzes, das ihn ruft,
Abbitte
zu leisten, wie es ihm gefällt.
Der Körper bewegt sich. Aus der Unschärfe des
herabrinnenden
Wassers auf Glas entwickelt sich eine Gesichtshälfte,
blässlich, gelb und verschoben, die sich dreht, wie zurecht
dreht
in der unbequemen Lage zum Rachen der Welt und zur Sonne hin, welche
die letzten Wasser trocknet; jenen gleissenden Ton absorbierend, der
den elektronischen Körper in den floureszierenden Bann der um
ihn
schmelzenden und aufzuckenden Flut setzt, für Momente sich wie
zu
erkennen gibt, einen letzten Atemzug, ein Beben der
Nasenflügel,
ein Spreizen der Finger, langsam sich in ein letztes Winden
aufbäumt, die Hand geballt zur Faust, ehe ein voll beladener
LKW
in voller Fahrt den sandbraunen See in zwei Hälften teilt und
unsere Frontscheibe mit einem plötzlichen Schschschtt
für
Augenblicke eindunkelt mit der saharafarbenen Brühe,
getränkt
mit dem Müll der Stadt und der Namenlosen, die der Fahrer,
entschwindend am flüssigen Horizont, wie einen vor sich hin
sirrenden Faden hinter sich lässt.
Die blaue Neonbeleuchtung beginnt zu flackern über den wenigen
Obststiegen, die aufeinander stehen geblieben sind, erlischt zischend,
während unsere Frontscheibe abläuft. Ich erhole mich
von dem
leichten Adrenalinstoss, den diese abrupte Bewegung auslöst.
Gebannt und erleichtert starre ich den Mann an der Ecke an, der sich
allmählich aus den kakaobraunen Rinnsaalen schält,
den
dunkelblauen Kaftan mit einem gekonnten Knoten im Nacken bindet, den
goldenen Ehering erst zwischen die Zähne nimmt, dann in den
Mund,
und mit zwei Eimer ähnlichen Behältern auf den Knieen
beginnt, den Schlamm von einem Wasser in ein anderes zu
schöpfen.
Wir haben beschlossen, die Durchquerung des Sees zu wagen. Die andere
Seite verspricht weniger grosse Pfützen und eine irgendwie
befestigte Strasse, die befahrbar ist. Auch erspähen wir ein
Tor
ähnliches Gebäude, das viel versprechend einen
grossen Platz
freigibt. Hinter jenem Tor
jedoch eröffnet sich anstelle der erhofften Strasse eine mit
Pfützen übersäähte breite Schneise,
mit verfallenen
Hütten und Behausungen, soweit das Auge reicht.
Wir fahren hinein, langsam, um das Unfassbare zu begreifen, in dessen
Mitte wir unversehens geschleudert sind. Die Slums von Laayoune. Alte
Menschen mit Stöcken, Einbeinige auf selbst gebaute
Krücken
gestützt, durch den Schlamm hüpfend, nach
undefinierbarem
Zeugs stochernd, ein etwas unter den Arm geklemmt, ein Stück
Stoff, ein Ziegenbein, eine noch trockene Decke, die zu retten
wäre, einen nassen Zigarettenstummel in die Zahnlücke
geklemmt. Ein altes Paar in blauer Kleidung steht vor seiner halb
eingestürzten Hütte, der Regen lastet schwer auf dem
uneben
aufgetürmten Schrott, der als Dachabdeckung dient;
Fahrradteile,
zerschlissene Reifenstücke, Holzplanken von irgendwelchen
fehlgeschlagenen Baukonzepten in der Wüste, angeschwemmtes
Material jeglicher definierbaren und undefinierbaren Art.
Die Alte erspäht meine Kamera. Als ich das bemerke, erwarte
ich
irgendeine Regung der Beschämung, dass sie vielleicht ihre
Hand
vor das Gesicht hält und nicht gefilmt werden will, oder mich
in
einer wegwärts Bewegung zum Weiterfahren befiehlt, doch nichts
passiert. In einer Art Apathie gefangen schaut die alte Frau in die
Linse und das grosse Dunkel hinter der Kamera, starrt in mein Gesicht
und die Welt, aus der ich komme, unberührt und
gleichgültig.
Vielleicht ist sie kurzsichtig. Ich lächle ihr zu mit offenem
und
ehrlichem Bedauern, das ich in der Lage bin mit meinem Gesicht
auszudrücken, aber sie verzieht keine Miene, steht da wie
versteinert im Fluss der Dinge, die nicht aufzuhalten sind, und der
letzten Habseligkeiten, die ihr davonschwimmen.
Wir sitzen trocken in unserem europäischen Käfig auf
vier
Rädern, jeder Spritzer auf der Linse lässt mich zum
Putztüchlein greifen und einer Portion Hauch, welcher die
Oberfläche des Glases wieder in einwandfreien Zustand
versetzt,
und vermeidet, die Konzentration des Zuschauers auf den unbeweglichen
Fleck auf der Leinwand zu bannen. Wie ich mich schäme. Der
Menschen wegen oder meiner selbst wegen schäme oder eben, weil
die
Dinge so sind wie sie sind. Immer wieder, nur vorsichtiger als
anderswo, begleiten uns Kinder und winken in die fahrende Kamera, die
ich nicht mehr weiss, wo zuerst hinhalten, wie selektieren, wie
blitzschnell die besten Szenen einfangen, das einfach Menschen
Unmögliche? Der Gestank ist fast nicht mehr zu ertragen;
Müll, Kot, Urin, Schlamm und Geschlachtetes stechen
unerbittlich
in der Nase. Die Kinder lachen in die Kamera; wenn diese Kinder nicht
die Welt retten können?, wer dann!
Die Hütten sind Farbtupfer auf sich verschiebenden
Bretterebenen,
die zur grossen Apokalypse zusammen gefunden haben, zum Stelldichein
der Aussichtslosen; die Ebenen sind ins Rutschen geraten, die Gesichter
offen für jeglichen Strohhalm einer Rettung. Ich
gebe zu
verstehen, dass ich dokumentiere, was hier geschieht, bin die gute
Botin, Vermittlerin zwischen den Welten, Hoffnungsträgerin,
die
mir selbst zur Last geworden ist, was könnte ich schon tun,
bewirken? Die Menschen scheinen zu verstehen, diese Energie des Helfen
Wollens, die meine Augen ausstrahlen, da mich nichts anderes in diesen
Momenten interessiert. Ich schere mich einen Dreck um die richtige
Szene. Lasse die Kamera laufen von Hütte zu Hütte.
Verhau um
Verhau schieben wir uns vorwärts in der endlosen Kette von
aneinander gereihtem Elend. Ein Mädchen im
Rüschenkleidchen,
in strahlendem weiss, spannt eine Leine, auf der es Dinge zum Trocknen
aufhängen will, gleichwohl es immer noch regnet. Erschreckt
und
beschämt blickt es in die Kamera, bis ich sein Vertrauen
gewinne.
Es lächelt zurück. Ich heisse Susanna, und schaut uns
nach,
als wir um die Ecke biegen. Susanna, tönt es in meinem Ohr,
ein
Klang, der sich an meinen Gaumen heftet wie ein wippender,
hängengebliebener Tropfen Tau. In behendem Schritt schwebt
Susanna
uns nach, von Erhebung zu Erhebung durch die nasse
überschwemmte
Strasse; die nackten Füsse touchieren kaum den Boden, die
langen
schwarzen Zöpfe fliegen weit nach hinten, als sie uns
überholt und uns wie eine tänzelnde Kriegerin durch
die
Hölle leitet. Wir folgen ihr, die Kamera ist an ihre Fersen
geheftet, gefolgt von einer Heerschar von Kindern, die ihren grossen
Auftritt wittern. Susanna läuft schneller und schneller, sie
rennt
durch die Menschenmenge, und damit es schneller geht, schwebt sie auf
den Rücken der Maultiere durch die Menschen der Slumstadt, die
rechts und links auseinander stieben. Ausser Atem bleibt sie abrupt
stehen vor einer lang gezogenen Bude, ihre schwarzen Zöpfe
fallen
quer zum verzerrten Gesicht und wie ein Schleier unter die grossen
Augen, dahinter finstere Gesichter mit blitzenden Messern stehen, an
der die geschlachteten Tiere abhängen. Hier also ist der
Metzger
der Slums, denke ich, und fluche, dass in diesem Moment die Kamera Tape
Ende signalisiert, in genau zwei Minuten. Sie haben mein Zicklein
geschlachtet, ruft Susanna in hackigem Französisch, dass sie
auf
der Strasse gelernt hat, und verschwindet mit ihrem weissen Kleidchen
zwischen den abgezogenen Tierleibern. Miss, Miss, you speak english?
Gestikuliert ein Kindergesicht durch das geöffnete Fenster auf
der
Fahrerseite, durch das es kaum hereinschauen kann, bis es auf einer
Erhebung zu stehen kommt, und sich für Momente mit inne
gehaltenen
Worten im Rückspiegel betrachtet, bevor es den Kopf ganz zum
Fenster herein streckt. Miss, Miss, ... ich bin Flüchtling aus
der
Sahara, habe Asyl in der Schweiz, und heftet dabei seinen Blick auf
meine Kamera, ohne Phil auch nur zu beachten. Ich muss Ihnen
erzählen von der Polizei, die bringt die Kinder um, die ist
schlecht...die Polizei, ich bin Flüchtling, ich spreche viele
Sprachen, ich kann Ihnen hier vieles zeigen, wenn sie wollen. Du bist
verrückt, sage ich, Sie bringen die Kinder um?, wiederhole
ich,
das Kind im Satz unterbrechend, um sicherzugehen, dass ich in der
Aufregung tatsächlich den Recordknopf gedrückt hatte;
ich
liess keinen Zweifel an der Richtigkeit meines Gehörs. Ja, ja,
sie
sind so schlecht, viele von uns sind im Gefängnis oder nicht
mehr
am Leben. Sie ... Der Satz endet abrupt, als von vorne irgend etwas den
Wagen rammt, eine Ziege vielleicht, ein Huhn, ein Kind, keine
Ahnung. Und wie abgesprochen ist in diesem Augenblick das Tape zu Ende,
das Kind verschwunden.
Ohne mich weiter um das Verbleiben des Kindes
kümmern zu
können, das so plötzlich, wie es aufgetaucht war,
verschwunden ist, wechsele ich das Tape aus der Kamera zu meinen
Knieen, um das Aufsehen des Bandwechsels zu verhindern, und ehe ich
noch das neue Band einziehen kann, klopft es mit den starken
Fingerknöcheln einer Faust an den Wagen. Ich zucke zusammen.
Ein
rundlicher, kräftiger Mann in Zivil und mit Handy bewaffnet,
schreitet um unsere Box in Richtung Fahrersitz. Halt, was machen Sie
hier? Ihre Ausweise bitte. Phil zückt seinen Pass, ich den
meinen.
Er studiert und notiert alle möglichen, vermerkten Zahlen und
Angaben, um die Pässe letztlich einzubehalten. Wir
müssen
mitkommen. Phil fährt mit dem Offizier in Civil in einem nicht
all
zu klapprigen PKW, ich folge, selber zum Esel geworden,
störrisch
und mürrisch mit dem Camper. Diesen Ort, ausgerechnet jetzt,
verlasse ich äusserst ungern. Das Schlimmste bereits ahnend,
verstaue ich die Kamera während des Fahrens in der grossen,
eigens
für verstecktes Herumtragen gefertigten Plastiktasche, um
später Zeit zu haben, ein neues Band einzulegen. Auf
kürzestem Wege an den Militärkonvois vorbei,
verlassen wir
das Gelände bis zum hohen Zaun auf der anderen Seite des
Tores, an
das die Strasse nach Agadir stösst. An der
Polizeipräfektur
angekommen und aufgefordert, mitsamt der Kamera mitzukommen, kommt mir
mein Vorteil zu Gute, nur soviel Französisch zu verstehen, wie
es
der Situation dient. Ich stelle auf nicht verstanden, um Gelegenheit zu
haben im Camper das Tape einzuspulen, und verlasse samt Tüte
und
Kamera unsere mobile Box.
Die Strassenbegrenzung vor der Polizeipräfektur ist nicht mehr
zu
erkennen. Wir hüpfen in unseren Sandalen über die zum
Überweg aufgehäuften Steine und balancieren bis zur
ersten
Stufe der Präfektur, an die das Wasser heranreicht.
Am
Wachpfosten vorbei steigen wir hinauf in den obersten Stock und
betreten eines der hinteren Zimmer. Wir werden gebeten, Platz zu
nehmen, es dauere eine Weile. Sehr gut, denke ich. Zeit genug, das
erste Herzklopfen zu besiegen, den Raum zu studieren, und die Lage zu
sondieren. Völlig klar, worum es geht. Aber wie es
geht,
nicht klar, macht nervös. Phil redet seine Antworten in die
Fragen
des Offiziers hinein, der uns hierher gebracht hat, und der den
doppelten Platz beansprucht hinter dem Pult wie sein Kollege. Was hat
er Dich gefragt, frage ich immer wieder, und blicke dabei Vertrauen
erweckend und möglichst naiv in das steinerne Gesicht unseres
Vorgesetzten, oder zumindest dessen, der so tut, als sei er eine
Autorität. Über seinem Kopf thront die verblichene
Fotografie
des Marokkanischen Präsidenten, in Fujicolor und Goldrand, von
Sonne und Hitze verätzt. Von der Wand sich in der abrupten
Feuchtigkeit seit Tagen der Putz schält und einige Schichten
farbigen Anstrichs freilegt. Er will das Band sehen. Ich fingere in der
Tasche herum, baue die Kamera auf seinem Schreibtisch auf, das dauert
eine Weile, genügend Zeit um Hilfsbereitschaft und Wohlwollen
glaubhaft zu simulieren, suche das passende Band, unterdrücke
ein
leichtes Zittern der Finger, als ich es an der falschen Stelle stoppe,
fährt es mir heiss durchs Blut. Ich spiele das Band ab. Zu
sehen
ist Laayoune unter Wasser. Strassenszenen, vorbeifahrende Autos mit
aufspritzenden Reifen, Treträder mit Kindern im Wasser, die
Frau,
die ihren Einkauf auf dem Kopf durch die Wassermassen balanciert, die
vorwitzige Ziege, die Amerika entdecken will, der floureszierende Tote
an der Ecke, die Polizeiaufnahmen, die Reporter, mit den
Füssen
einen Plastikdelphin hin und her kickend, alles steht im und unter
Wasser. Das ist nicht das richtige Band, knirscht er entnervt durch die
zusammengepressten Lippen, hinter denen sich eine breite schwarze
Zahnlücke auftut, und schiebt umständlich den
Kautabakstummel
von einer Seite des Mundwinkels in den anderen. Ich widerspreche,
beharre auf der falschen Wahrheit, dass es kein anderes richtiges Band
gäbe als dieses vorgelegte, und mir vielleicht ein Fehler
unterlaufen sei bei der Aufnahme und dem Wechseln der Tapes, da ich
noch am Üben sei, und die Kamera noch nicht lange
hätte.
Ergeben klopfe ich meine Taschen nach weiteren Tapes ab. Ziehe ein
halbes Band mit Krokodilen hervor, das aus Südfrankreich
stammt
und bereits beschriftet ist. Darauf steht geschrieben: Krokodile. Sehen
Sie, ich bin Künstlerin, filme Krokodile, hier steht es, und
lege
den verständnislosen Gesichtern zwei weitere, leere Tapes vor
die
Nase, eines noch in Orginalverpackung, das andere geöffnet.
Wenn
Sie Künstlerin sind, warum filmen Sie nicht die
Sanddünen in
der Sahara und das Meer? Die Sahara ist nass und sieht aus wie das
Meer, gebe ich zur Antwort, und ernte verständnisvolles
Kopfnicken, die vorgeschobene Unterlippe des einen konterkariert das
verstärkt milde Lächeln des andern, das sich
plötzlich
ausbreitet in ihren Körpern und Gesichtern und ihrem ganzen
nassen
Alltag wie Wogen der Behagsamkeit nach einem langen warmen Bad.
Das ist es, das ist das Tape! Sein Kollege reckt den langen Hals um die
schwarze Ecke des Suchers, während der andere entspannt
zurücklehnt, um das Erhoffte zu erspähen, aber er
sieht nur
Blau, und blickt fragend und zweifelnd seinen Vorgesetzten von der
Seite an. Dieser Himmel ist zu blau für heute, ereifert er
sich ob
der Richtigkeit der Farben, denn er scheint ja immerhin eine Ahnung zu
haben von der künstlerischen Seite, und zupft sich
nervös an
den gelben Kragenspitzen, die hinter dem olivgrünen Revers
hervorlugen. Ausserdem hat es den ganzen Tag geregnet, setzt er nach.
Dummkopf, murmelt der Offizier und ereifert sich in seiner Vision,
bekräftigt, dass er dieses Band konfiszieren müsse.
Ich
schüttele energisch den Kopf. Kommt nicht in Frage. Wortlos
und
offenbar verärgert knallt er den angekauten Kugelschreiber,
den er
unaufhörlich abwechselnd zwischen den Fingern und der
Zahnlücke in entgegengesetzter Richtung wie den
Kautabakstengel
dreht, aufs Pult, und verlässt mit dem Vorgesetzten den Raum
mit
der Anweisung, dass sie gleich zurück seien, wobei ich schnell
begreife, dass es sich um zwei Vorgesetzte handelt, wir mögen
uns
einen Moment gedulden. Siegessicher und heftig schlägt er
hinter
sich die Tür zu. Für Momente gleiten Schauer der
Erleichterung durch meine Adern. Aber das Ganze ist noch nicht
ausgestanden. Tief durchatmend lasse ich den Blick im Raum schweifen
zum Fenster, und strecke meine unter dem Tisch verklemmten Knie und
Füsse gerade, unwissend, wie lange diese wohltuende
Entspannung
anhalten möge. Erstmals bemerke ich den Soldaten in
olivgrüner Uniform hinter dem Vorhang, der zumindest der
Stofffarbe nach in gleicher Beschaffenheit dasteht wie der Vorhang von
der Decke hängt, wohl auch in eben gleicher Steifheit, und den
ich
deshalb kaum wahrgenommen hatte. Den müssen sie hier
für
seine Bewegungslosigkeit bezahlen, nicht für die
Konzentration,
die sich damit verbindet. Unaufhörlich späht er mit
dem
Opernglas auf die Geschehnisse unterhalb seines Fensters, ungeachtet
unserer Anwesenheit. Noch weitere, erforderliche Streckversuche mimend,
stehe ich kurz entschlossen auf und strecke mich bis zur Decke, die ich
mit Fingerspitzen erreichen kann, um das Gleichgewicht zu bewahren, und
werfe den schnellen Blick nach unten durchs Fenster. Von hier oben hat
er hat das Quartier im Griff, alles unter Kontrolle. Von hier oben, dem
einzigen dreistöckigen Gebäude, das nicht vom
Einsturz
bedroht scheint, wird jeder Schritt und Tritt und jede Bewegung in den
Slums verfolgt. So ist das also gewesen. Die haben uns schon von Weitem
erspäht. Also muss ich ihm mindestens zehn blaue Bandminuten
überlassen, und lasse mich zurück auf den Stuhl
fallen. Bloss
wie...? Da!, ruft er aus, überlassen! Nachdem sich
die
beiden Offiziere wieder hinter ihrem Schreibtisch in Stellung gebracht
haben und die Tür vom Wind ins Schloss schmettert. Noch mal
spielen, echoe ich überlegen, und ernte ein stummes,
zunickendes
Lächeln. Willig lege ich das geöffnete Tape in die
Kamera und
lasse es abermals laufen. Doch ausser der Farbe blau und einer
dahinrauschenden Zeitangabe mit Datum ist nichts zu sehen. Der Offizier
starrt gebannt in die Kamera.
Wir müssen das Band konfiszieren. Ich müsse
verstehen, dass
diese Aufnahmen nicht dem Bild entsprächen, dass Marokko dem
künftigen Tourismus zeigen möchte, Bilder der Sahara
unter
Wasser, das ginge nicht. Die Sahara muss den weissen trockenen Sand
haben und Dromedare, die sich auf dem Rücken der
Dünen gegen
den blauen Himmel abheben, im langgezogenen Schatten der sinkenden
Sonne ziehend.
Ich begreife, gebe reuig zu erkennen, dass das das viel bessere Bild
sei, und biete kurz entschlossen an, die betreffenden Stellen auf dem
Band zu löschen. Die Offiziere schauen sich einen Moment lang
fragend an und stimmen
zu. Die erste Hälfte des Bandes ist unverfängliche
Wüste, resümiere ich eilig zu mir selber, die
Staatsstrasse
nach Laayoune, das Meer, Dinge, die nicht ungewöhnlich sind
für Reisende. Ich spule das Band zurück an die
betreffende
Stelle, wo der blaue Himmel ins blaue Meer stürzt, und stelle
die
Kamera mit der Linse auf den Schreibtisch, drücke den
Recordknopf.
Zur allgemeinen Vergewisserung bitte ich die beiden Köpfe der
Herren über den Sucher, um den aufleuchtenden Recordbutton zu
bestätigen. Das Bild tilgt die Erinnerung mit der
nächtlichen
Tinte des Schreibtischs unserer Vorgesetzten. Nickend und siegessicher
lehnen sich die beiden Herren in ihren breiten Schultersesseln
zurück, nachdem ich demonstrativ das Mikrofonkabel ziehe. Ich
erheische ein triumphierendes Schmunzeln. Braves Mädchen, so
ist`s
recht!
Ihr armen Dummköpfe, denke ich mit einiger Erleichterung, als
ich
Kamera samt allem Zubehör zurück in die Tasche packe.
Die
einzige Tasche, die ich nicht demonstrativ abgetastet hatte, befindet
sich direkt in Brusthöhe der schwarzen Kamerajacke, die ich
trage,
über der Herzkammer, und in dieser das Tape aus den Slums,
dass
ich für den schlimmsten der Fälle dort versteckt
hielt.
Immerhin bräuchte es für die Leibesdurchsuchung einen
weiblichen Offizier, und das ist unpopulär in Marokko. Ich
bedanke
mich bei den Herren, dass ich das Tape auf diese Weise erhalten konnte,
und bemerke, dass Phil`s verabschiedende Sätze in
völlig
verspanntem Französisch uns eifrig zur Tür hinaus
schieben.
Er hat genug von dem Vorfall.
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IM HAFEN VON NOUADHIBOU Pdf
Version
von Brigitte Uttar Kornetzky
©
Brigitte Uttar
Kornetzky 2006
Wir erwarten Mahid in seinem dunkelblauen Mercedes.
Unter dem baumelden Teddybären, der mich an westliche
Familienverhältnisse erinnert, klebt heute ein bunter
Aufkleber
des mauretanischen Präsidenten, der sich vor sechs Monaten ins
Amt
geputscht hat. Seine drei Mütter seien schon tot, und er habe
kein
Geld zu heiraten, bekomme ich als Antwort auf meine Frage, wie alt er
eigentlich sei. Seine Augen beginnen zu leuchten, als ich von ihm
wissen will, was es denn sonst noch so in Nouadhibou anzuschauen
gäbe. Familie ist offensichtlich nicht sein Thema,
über
Politik schweigt er sich aus. Ja, die Fischereizone, in der
Trockenfisch für den Export hergestellt wird. Ich ziehe die
Brauen
hoch, nicke zustimmend, wir steuern in Richtung Hafen, in der wir Tage
zuvor die toten Fische haben schwimmen sehen.
Wie nach einem Sturm zusammen geschoben an den Rand des Areals
schälen sich die Baracken der Fischer aus dem Sand, mit
zahllosen
Planken und Verstrebungen befestigt, beschwert mit allerlei
Altmetallstücken, keinerlei Idee von Funktionalität
ausstrahlend; doch alles scheint nach einem Plan zu funktionieren,
für uns Europäer nicht gerade auf den ersten Blick
erkenntlich. Ein grosser, freier Platz schliesst sich an das hintere
Hafengelände. Von den Eselskarren sind nur noch wenige
unterwegs,
der Plastikmüll ballt sich zu komplexen Haufen namenloser,
strotzender Materie, die im steifen Wind zittert. Vereinzelt laufen
Männer und Frauen in irgendwelche Richtungen, aus denen ein
entmutigender Gestank zurückschlägt. Ein grosser
Haufen
liegen gebliebenes Schuhwerk, ausschliesslich weiblicher Herkunft und
Kinderschuhe, zieht meine Phantasie für Momente in Bann und in
die
Abgründe des Menschenschmuggels. Aufgeregt wate ich durch das
Meer
aus versandeten, zerschlissenen Riemen und Sohlen und losen
Schnürchen und Stofflichkeiten, durch die der Sand eine
Geschichte
säuselt, ohne Namen, ohne Angehörige, ohne
Destination und
Herkunft, zappelnd im Wind. Im Hintergrund zerschneiden die
Schiffswracks der Russen rostbraun das Meer. Wer hat das Schuhwerk
gerade hier ausgeschüttet, warum sind die Säcke oder
Kisten,
in denen man sie transportiert haben muss, verschwunden, und warum
verwendet man die Materialien der Schuhe nicht weiter, wie doch hier
alles weiterverwertet wird? Und wo ist jeweils der zweite Schuh jenes
verfluchten ersten? Woher kommen sie, unter welchen Kleidern waren sie
versteckt und warum beachtet sie niemand? So europäisch, wie
sie
aussehen, sind sie mir bereits auf dem Markt in Nouadhibou begegnet,
zwischen all dem Müll und den Früchten, als irgendwie
nichts
Besonderes. Ich belasse es bei den wenigen diagnostischen Versuchen,
die es braucht, um meine Phantasie in Rastlosigkeit zu versetzen, und
steige zurück in den wartenden Mercedes, dessen Motor bereits
heiss gelaufen ist.
Am Ende des Platzes ragen schwarze Eisenteile in den Horizont. Wir
nähern uns den Wracks, umfahren den grossen Platz bis zum
Ende, um
dann links in die nächste Ansammlung von Baracken einzubiegen,
die
sich wiederum neben einer grossen Mülldeponie hinzieht; welch
schöne, saubere Vokabel eine Mülldeponie doch ist,
unter der
wir uns ein in sich geschlossenes, eingezäuntes Areal
vorstellen,
das regelmässig gelättet, eingestampft und mit
Geruchsstopper
getränkt wird. Dieses Areal aber nimmt die gesamte
Fläche
ein, geht nahtlos über in die in regelmässigen
Abständen
in den Boden gerammten Pflöcke, die sich allmählich
in ein
Labyrinth aus gespannten Leinen, Schnüren und Seilen, und aus
dem
endlosen Wust flatternder Plastik und Stücken undefinierbarer
Herkunft und Eigenschaft verknäulen, den ermüdenden
Rhythmus
weiterer Bedingungslosigkeiten fortsetzend.
Hier baumeln zum Trocknen aufgehängt, wie tonlose Windspiele,
tausende und abertausende halbierter, weissschimmernder Fischleiber in
der Mittagshitze; Ständer um Ständer, auf
Bauchhöhe
zusammengeschnürt. In einer zweiten Schicht werden diese auf
grosse Holzsteige gelegt, lose zusammengebunden, um mit einer
übergeworfenen Plastik auf den Abtransport zu warten, der je
nach
Händlerlaune tagelang dauern kann.
Der Gestank entbehrt jeglichen Vokabulars. Er ist erbärmlich,
breitet sich auf der Zunge aus, in den Augen und Ohren. Der Wind
stinkt. Meine Haut stinkt. Der Himmel stinkt. Ich drehe mich in jene
Richtung, aus der dieses Übel herüber weht. Hinter
den lose
zusammengehaltenen Balken und Ständern mit eingestricktem
Plastik,
grünen Netzresten und Gegenständen zum Beschweren
jeglicher
Art, öffnet sich ein weiteres Feld, gesprenkelt mit dunklen
Schatten den Horizont hinauf, gespenstisch gegen die Sonne, gegen die
Schiffswracks, die im flachen Wasser liegen geblieben sind, Heimstadt
der Kraniche, auffliegend in achter Kreisen von Deck, in Newtonringen,
Silberfäden. Dosen, denke ich, aufgequollen, verzogen,
verkrümmt. Die Sonne brennt bunte Sterne auf die schwarze
Linse.
Süssliche, funkelnde Blasenwürfe über der
Trostlosigkeit
der Trostlosen, in Kodakfarben; der Schrei hat eine rote Kruste.
Mein Atem vermeidet tiefer zu gehen, stockt in der Lunge,
gräbt
die Nasenflügel tiefer in den Schal über dem Sucher.
Aus den wimmernden, sinkenden Eingeweiden, dem Gestank unter der Erde
nach Verwesung, die auf Verwesung türmt, rinnt die flache
braune
Hitze aus den Leibern. Flinke Vögel, Strandläufer,
rennen hin
und her wie ein wogender fahlgrauer Rattenschwarm, von einem Punkt zum
andern, gehetzt Richtung Wasser, wo der Sand aufhört, Richtung
Strand, wo das Wasser aufhört. Zwischen der Brandung von
Lebendem
und Totem gibt es kein Entkommen aus dieser engen Welt, die nach allen
Richtungen offen ist ...
Ich schaue zu meinen Füssen hinab. Was ich zuerst als
gestrandete
rostige Dosen wahrnahm, identifiziert sich in abertausende von
Fischköpfen, die rostbraun in der Sonne schmoren, abgetrennt
von
ihren Leibern, Zeugnis einer grossen Schlacht, die keiner gewann, je
gewinnen wird, soweit das Auge reicht. Ich gewähre der Kamera
ein
erstes Schauen, beginne vor meinen Füssen, arbeite mich zum
Horizont vor, gegen den Wind. Handgrosse Muschelschalen knirschen unter
den Füssen, während ich mit der Kamera von einem zum
andern
Haufen torkle.
Am Barackenrand schwingen sich Arme in die Luft wie ausgefranste
Bänder unendlichen Rufens, lautes Knurren und Fuchteln mit
unkenntlichen Gegenständen, Kinder schleichen wortlos um meine
Beine, den Finger im Windschatten der mit Fliegen gespickten Nase, die
in der tränenden Feuchtigkeit kleben geblieben sind; den Blick
weit und gross in das schwarze Loch der Kamera gerichtet. Die Haare zu
abstehenden Zöpfen geflochten, staksen in den Himmel wie das
Gestrüpp der Baracken, als ich mich zu ihnen hinunter
bücke,
gefolgt von schwarzen Flecken, die empor hüpfen und ihre
Identität in Sekunden auslöschen. Ein
unmissverständlicher Aufschrei scheucht sie weg: wir sollen
weitergehen, kein Filmen hier, ich verstehe, und eigentlich muss man
nicht wirklich viel verstehen. Ich signalisiere Mahid, dass wir ihn
nicht in Gefahr bringen wollen, wenn wir Nouadhibou verlassen haben.
Der lächelt und antwortet, dass die uns nichts zu sagen
hätten, zu jenen in den Fischbaracken hinüber
deutend. Nur
Vorsicht mit persönlichen Abbildungen, meint er. Nein, nein,
ich
nicke zusichernd, und konzentriere mich wieder auf die verrottenden
Fischköpfe, bevor diese fliegen lernen und auf unseren
Köpfen
landen, drehe ich mich passend vor den Hütten zurecht. Aber
alle
Augen sind wachsam, auch, wenn sie uns den Rücken kehren. Ich
spüre die Feldstecher des nahe gelegenen Flughafens auf uns
gerichtet. Es ist Zeit zu gehen. Die knapp zwanzig Minuten Tape sind
mir das Risiko nicht wert. Wer sich zu lang im Müll
aufhält,
wirkt verdächtig, das Gesetz der Strasse hat mich das gelehrt;
und
der Flughafen liegt zielgenau im Hintergrund der leeren, ausgestossenen
Fischaugen, die dem wichtigsten Umschlagplatz des Drogen-und sonstigen
Handels geopfert wurden, nachts, wenn die Helikopter landen und den
Sand der Schlachtungen gegen die Baracken peitschen, und am Ufer die
lang gezogenen Boote, überladen mit Flüchtlingen,
sich an den
metallischen Geruchsfäden hinaushangeln unter dem
gütigen
Mond, ins offene Meer, von denen es einige schaffen, einige nicht, aus
dem Land, dem jeder entkommen möchte.
Langsam steigen wir in den geparkten Mercedes und kehren diesem Ort den
Rücken. Durch das Seitenfenster tauscht Mahid schnell noch ein
paar Marlboro Zigaretten bar auf die Hand des Händlers mit der
umgebundenen Trage. Worte und zahnloses Lachen fliegen hin und her.
Darin lese ich eine Geste des Vertrauens, und rücke die Kamera
zurecht. Auf der rechten Seite passieren wir eine Gruppe
Männer
und Frauen, die im Kreis stehend, den Fischen die Bäuche
aufschneiden, um die Eier zu entnehmen, angeblich zum Versand nach
Europa. Was nicht weiblich ist, verrottet elend rechts und links der
Baracken. Wir flaxen hin und her, Mahid mit Worten, ich mit Augen und
Kamera. Phil wittert Gefahr und will möglichst schnell weiter.
Die
Kamera hängt bereits am Boden. Der grosse schwarze Kerl mit
Messer
lacht in die Kamera, nein, das denke ich nur, das Tape zeigt den neuen
Präsidenten Mauretaniens in der Windschutzscheibe. Mahid
versteht
meine Bedürfnisse und verlangsamt, die Frau hinter dem Kerl
spricht überraschend mit mir ein freundliches Englisch.
Vielleicht
kommen sie von Guinee, denke ich blitzschnell, jedoch bevor ich
antworten oder die Idee prüfen, ihr Gesicht betrachten kann an
den
Schläfen, das zwei mal zwei tätowierte Kerben
aufweisen
müsste, sind wir schon vorbei, in wenigen Kilometern einem
weiteren Verirrten in der Staubwolke folgend zurück in die
Stadt
der zahllosen Geschichten und Abenteurer, der sinkenden Sonne entgegen.
MOTORENVODOO Pdf Version
von Brigitte Uttar Kornetzky
©
Brigitte Uttar
Kornetzky 2006
Der Schlaf gebiert Ungeheuer. Leben in Mauretanien im Ausnahmezustand,
ein halbes Jahr nach dem Regierungsputsch.
Die letzten einhundert Kilometer in Richtung Süden, sechzig
Kilometer hinter der Grenze zwischen Marokko und Mauretanien verlaufen
für uns im Schneckentempo. Wir verlieren
Kühlerwasser. Nun
liegen wir zwangsarretiert in einem Camping am Stadtrand von
Nouadhibou, der Hauptstadt Mauretaniens, angespült wie
Schiffbrüchige, porös und müde der
Verhandlungen,
zwölfhundert Kilometer bevor in Richtung Süden die
Sahara
Occidental an der Grenze zu Mali endet. Seit vier Wochen warten wir auf
dem gleichen, sandigen Fleck, mit ausgebautem Motor, der wie ein
geschlachtetes Lamm neben dem Ort seiner Bestimmung liegt. Der Camping
ist ein Umschlagplatz für Abenteurer und
Glückssucher,
für Frühpensionierte, Rastlose, Hellerjäger,
und jene,
die noch gar nicht wissen, wohin die Reise geht, zu denen
möglicherweise wir gehören. Das Schicksal,
gehüllt in
den Stoff der azurblauen Händler in fliegenden Sandalen, hat
seine
schwarzen Augen auf uns gerichtet. Was haben sie mit uns vor?
Wir
werden Geduld geprüft, zurecht gebogen, eingefügt in
den Plan
Allahs, der bedeutet warten, vertrauen, bezahlen?
Unsere Bedürfnisse sind empirisch einfach. Wir warten auf eine
Zylinderkopfdichtung, die von Deutschland aus einen ungewollten Umweg
über Johannisburg nach Dakar und zurück genommen hat,
und vor
drei Tagen unversehrt eintraf; wenn auch in afrikanischer Verpackung
zwischen zwei dicke Kartons gelegt, ist die notdürftige
Verklebung
nicht gerissen. Was unter normalen Umständen Grund
zur
Freude ist, hat sich nur in dumpfe Erleichterung verwandelt. Kaum einen
Gegenstand mag ich mich je erinnern, heisser ersehnt zu haben. Nun
liegt das ellenlange Dichtungsteil mit den unregelmässigen,
weich
geschwungenen Löchern, durch die das rotkarierte Tischtuch
lugt
wie eine Burleske, vor mir auf dem sicheren Altar der Hoffnung
aufgebahrt, flach und mit blinkenden, Messing farbenen
Metallrändern, wo es weder herunterfallen noch verbiegen kann;
che
bello, bestätigt ein Italiener neugierig und sichtlich vom
Tischtuch angezogen, der den gleichen Motor fährt wie wir und
so
etwas noch nie gesehen hat. Allein, es fehlt am Mechaniker, der aus dem
Süden von Nouakchott kommend, morgen hier eintreffen soll. Den
Tagen der Verzweiflung ist ein Ende abzusehen; ein weiterer Tag,
zwischen tobenden Hunden hinter fliegenden Bällen und
Stöcken
und im Sand wirbelnden Kindern zwischen all dem Müll und
Gestank
im Souk und dem unausweichlichen Händlerblau nimmt seinen Lauf.
Ein Reisender sucht ein Ersatzteil, ein anderer will seinen
mitgebrachten Kleiderberg, den er auf der Motorhaube
aufgetürmt
hat, und die Schreibmaschine der Grossmutter verhandeln gegen einen
Radwechsel; ein weiterer tauscht am immer geöffneten
Schwarzmarkt
unter blauen Kaftanen seine Landeswährung in
Nähmaschinen,
und gegenüber werden Motorengeschäfte abgeschlossen,
die in
westlichen Breitengraden keinerlei Chance haben auf einen
Eigentümerwechsel. Eine Hand wäscht die andere, ein
Fahrzeugteil wird in ein anderes ausgewechselt. Europas Müll
findet die letzte Ruhestätte im ewigen Sand. Der Wind jagt den
Sand den Hunden hinterher. Der Autohandel floriert und steigert sich in
höhere Dimensionen als anderswo im Land. Dem
Taxigeschäft
dient alles, was vier Räder hat und sich von der Stelle
bewegt,
egal wie, gleich wohin; so finden in einem normalen Personenwagen nicht
selten neun Personen Platz, hinten fünf und vorne vier, Babys
zählen nicht. Phantasie und Zeit sind keine Grenzen gesetzt,
dem
einzigen Kapital der Mauretaniis, die unermüdlich den leeren
Magen
durch den Kopf spielen lassen wie eine Gebetskette. Vom Mercedes aller
Klassen über selbst gebastelte Busse und halbierte Wohnmobile,
die
auf Lastkraftwagen montiert sind, wird jeder fahrbare Untersatz bis
aufs Mark geprüft, bevor es darum geht, das restliche Dasein
zu
fristen in der Wüste und unter freiem Himmel. Träumen
oder
wachen wir. Das Erwachen wird von Tag zu Tag ernüchternder, je
weiter wir in den Schlund dieses Treibens geraten. Eine
Problemlösung dauert vier Wochen, das nächste Problem
steht
in wenigen Stunden, gar Sekunden vor der Tür, und dauert wer
weiss
wie lange, gelöst zu werden. Und weil Probleme Geld bringen,
hat
jeder Zeit, sich lange Lösungen einfallen zu lassen. Philip
ist
müde vom Frage und Nicht-Antwort-Spiel, ich halte mich
zäh
und jenseits der französischen Welt. Wir kommen in die
fünfte
Woche des Wartens.
Mit grossen, leeren Augen starre ich durch das einströmende
Gegenlicht, das zwischen den halb geöffneteten
Vorhängen
hervorquillt. Der Morgen nach dem Morgen danach. Ein Hund rennt wie ein
gehetzter Schatten in regelmässigen Abständen durch
das
sandweisse Bild, von links nach rechts, von rechts nach links, gefolgt
von einem noch kleineren Gefährten, der ihn jagt. Die Dynamik
des
Ausnahmezustands wächst mit den Hunden, hält uns in
Bann,
nimmt uns gefangen in den Grotesken des Wartens.
Motorengeräusche
aller Art, ob stotternd, stockend, oder hochtourig aufheulend, zehren
an den Nerven und erinnern unangenehm an unseren Schiffbruch. Der
Geschmack nach Müll auf der Zunge vertreibt die Lust aufs
Frühstück. Die Augen tränen vom weissen
Licht, vom zu
früh geweckt werden, vom Sandstaub, der sich in den
trägen
Gedanken fest setzt wie Blei und diesen Wahnsinn poliert. Steckbriefe
purzeln mir durch den Kopf. Was macht man, wenn einer fehlt, wo ist der
Gewinner, oder sind wir alle auf der Looser-Seite, die Trophaen an der
Wand? Mitten im Lichtschlitz positioniert sich ein weiterer Deutscher.
Der alternde, hinkende Hund führt seinen Herrn mit dem Gesicht
einer Ziehharmonika, einer Mülltüte in der Hand und
der
Hundeleine um den Hals gewickelt, unentschlossen von einer
Mülltonne zur anderen, als ob er diesen kleinen Ausgang
nötig
hätte, oder einfach nur, um in ein Gespräch
verwickelt zu
werden oder sich anschauen zu lassen von der Morgensonne und den Early
Birds in den wehenden, lichtblauen Gewändern, die bereits auf
dem
Platz sind und ihren Tagesgeschäften entgegeneilen, und
ihrerseits
den x-beinigen betagten Herrn in kurzen Hosen nach einem
möglichen
Geschäft abschätzend beobachten. Er ist Rentner und
zeitlebens Lastwagenfahrer gewesen. Nun reist er allein, seine Frau
bleibt lieber zu Hause. Er habe noch einen anderen Camper zu Hause,
aber er reise eben lieber mit diesem, auf den schwarzen, aufgebauten
Peugeot deutend, aus dessen offener Türe den Eingang
schützend, ein grosses rotes Handtuch baumelt mit einem
schwarzen
Stier, welches er in Ales auf einer Corrida erstanden hat, wo es doch
die Besten gäbe; Stiere, erinnere ich mich Stirn runzelnd,
doch er
meint Weiblichkeit; seitlich an den Ständen des Kolosseums, wo
man
die schönen Sachen alle kaufen kann und danach gut essen.
Breites
Grinsen legt sich auf sein Ziehharmonikagesicht. Meine Gedanken
entgleiten mit Band on the run, das aus der Lautsprecherbox rockt neben
der Toilette, quer zum Morgen Allah Akbars, der uns unser Los zuweisen
wird oder auch nicht. Wenn Gott im Sand steckt, hat er den Pakt
geschlossen mit dem Teufel, Seite an Seite, Korn um Korn.
Später
erzählt mir unser neuer
Leidensgefährte Harald, der sich seit zwei Tagen auf dem Platz
eingefunden hat, dass ihn der alte Deutsche in Pornogespräche
verwickeln wollte hinter seinem roten Handtuch.
Ein Land für Aussteiger, Geschäftemacher,
für Abenteurer
oder Einsteiger in Abenteuer, oder solche, die das Abenteuer mit dem
Geschäft verbinden. Und alle sind reich und arm zugleich. Die
einen ziehen von Norden nach Süden, die anderen umgekehrt. Der
Tourismus hat die guten Sitten des Landes bereits verdorben. Seit die
Nord-Süd-Tangente fertig gestellt ist vor wenigen Monaten,
angeblich aus privater Initiative, ist dem den Reisestrom begleitenden
Guides und Händlern keine Grenze und dem Wucher kein Ende
gesetzt.
Ich öffne die Vorhänge. Die Augen fassen die ersten
klaren
Konturen. Wir haben neue Nachbarn. Heute ist der Tag des Herrn. Wir
erwarten unseren Mechaniker. Gegenüber vom Platz hat ein Trupp
aus
Plymouth-Banjul-People mit zwölf seltenen Automodellen
über
Nacht seine Zelte aufgeschlagen. Gespickt mit Werbeplakaten allerlei
Sponsoren und Investoren aus England für Afrika stehen die
schönsten der teilweise dreissig jährigen Modelle
aufgereiht
nebeneinander wie Geschöpfe aus einer anderen Welt. Auf den
Dachträgern Reifen, Fahrräder, Rohrleitungen,
Benzinkanister
und Ersatzteile aller Art, Grössenordnung und Buntheitsgrade,
verschnürt mit dem Rest der Vehikel, die man unter der
Dachlast
gerade noch ahnen kann.
Ein Berliner, der hinter uns sein amifarbenes Zelt aufgeschlagen und
erste Wäsche zum Trocknen aufgehängt hat, erweckt
einen recht
gefährlichen Eindruck mit Amihose und Buschmesser im
Gürtel,
schwarzem Turban und Wochenbart; Ex-DDR-Flüchtling mit
zweiundzwanzig, seither viel gereist. Mit flammenden, stahlblauen Augen
erzählt er mir Tage später seine Erfahrung im
Stasigefängnis, in dem er eineinhalb Jahre gesessen hat.
Schreiner
sei er, habe noch richtig iutes Handwerk gelernt, aber das brauche
heute kaum einer mehr, da die alten Villen alle restauriert seien;
anderer Bedarf seien Fast-Food Möbel a la Ikea, damit wolle er
nichts zu tun haben. So sei er ausgezogen in die Welt. Später
bemerke ich, dass ich seine Gegenwart enorm genoss, was wohl an wieder
aufflackernder Berliner Luft lag, die unversehens in meine Nase zog.
Auf der anderen Seite des Platzes schält sich eine
Menschenansammlung aus dem Nichts, das spricht für
Veränderung. Es dauert nicht lange, und unser Mechaniker mit
seinem Sohn und einem Kollegen eilen über den Platz zu unserem
Camper. Schneller als wir reagieren können, ist der Motor von
den
gegen den wehenden Sand schützenden Lappen und allerlei
Plastik
befreit und parat zum Einbau. Wie lange haben wir auf diesen Moment
gewartet, nun geht es zur Sache. Das Kind hockt innen vor dem Motor,
schätzungsweise nicht älter als acht Jahre, der
Vater, vom
grossen Samba genannt Le Jeune, liegt unter dem Wagen vor dem
gähnenden schwarzen Loch, in das der Motor wieder eingesetzt
werden soll. Der einbeinige Dritte, teilnahmslos ans Fenster gelehnt,
schaut zu. Im Eifer des ersehnten Wiedereinbaus, der endlich eine
Stange Geld verspricht, wird an den Ventilköpfen Russ
abgeschabt,
gekratzt und gepustet, bis mit Ratschen und allerlei Behelfswerkzeug
von Schwindel erregender Herkunft die neue Zylinderkopfdichtung
festgezogen wird. Mir wird bange, dem an den Zylinderköpfen
herumschabenden Kind möchte ich das Kratzwerkzeug am liebsten
verbieten, auch wenn ich kaum Ahnung habe von der Materie und zum
ersten Mal die geheimen Windungen des Motors vor mir sehe, die
ölüberquellenden Ventile, getränkt in der
goldschwarzen
sämigen Sauce, die uns tausende von Kilometern weit durch die
Lande gestossen haben. Der Russ fällt in die schwarzen
Öffnungen wie von einem angebrannten Blechkuchen. Dem
klickenden
Ratschen ist kein Rhythmus zu entnehmen, keine Systematik der Montage
oder ähnlich Vertrauen erweckendes. Mein Verstand
schlägt
Alarm, doch was könnte ich in diesem Fall bewirken? Le Jeune
sagen, dass sein Sprössling was falsch macht? Der
würde
ohnehin nicht auf eine Frau hören, schon gar nicht auf eine
Weisse. Der Einbau verlangsamt sich, zieht sich über den
ganzen
Vormittag hin; mit der Kamera registriere ich von allen Seiten, die
Gelegenheit ist günstig. Mit gutem Legitimationsgrund sind sie
alle im Kasten, denke ich, und eigentlich bin ich bereits so verstimmt,
dass ich die Kamera auf alles halte, was mir verdächtig
erscheint.
Davon gibt es mehr als genug, als es dann schliesslich ums Ganze geht.
Der erste Test, die erste Umdrehung des Schlüssels in der
Zündung, es kracht und funkt einen
Höllenlärm aus der
Maschine; blauschwarzer Rauch mit Furcht erregendem Rückfeuer,
das
von nun an kein Ende nehmen will.
Wie ich später erfahre, ist der Grund für das
nachfolgende
Dilemma eine falsch zusammengebaute Zündkerzenfolge, wobei die
Reihenfolge der Zahlen direkt oben am Motor werksgemäss
notiert
ist. Jedermann weiss das; sogar ich selbst hätte mir einen
Zusammenbau dieses eisernen Monsters zugetraut. Le Jeune muss
Legastheniker sein. Immer wieder zündet und stöpselt
er
apathisch in der Dose und streicht sich über den kurz
geschorenen
Kopf; es knallt erbärmlich. Der Höllenlärm
ist
unerträglich; mit jeder weiteren Implosion riskieren wir, ein
anderes Teil zum bersten zu bringen. Der ganze Innenraum stinkt nach
verbranntem Auspuff, blauschwarz die Luft,
unglücksgeschwängert. Aber Le Jeune zeigt keine
Reaktion,
zündet sich eine Zigarette an, und fingert weiter an der
Verteilerdose herum, mit der linken Hand den Schlüssel in der
Zündung betätigend, wieder und wieder wie ein nicht
zündendes Feuerzeug, umringt von dem Einbeinigen und drei
weiteren
Schwarzafrikanern, die schweigend mit den Köpfen und
Händen
an den Fenstern hängen, abzuwarten scheinen bis die funkende
Hexenküche explodiert, und die brauchbaren Einzelteile in alle
Himmelsrichtungen verteilt, oder aber einfach läuft und wir
uns in
Luft auflösen mögen.
Ich glaube, beides hat in dieser Kultur den gleichen Stellenwert.
Ausprobiert wird alles mit allem, entweder es läuft und gut
so,
oder es läuft nicht, dann auch gut so; dann werden die Teile
einfach anderweitig verwertet, Bedarf gibt es genug. Mir wird
schwindlig vor Augen. Was, wenn sie bereits einiges ausgetauscht haben
dort unten, weggelassen, ersetzt, wo keiner von uns hinschauen kann?
Was, wenn der Tauschhandel gerade unter unserem Motor stattfindet? Was,
wenn deren mechanisches Verständnis allein dazu dient, die
guten
Teile gegen unbrauchbare auszutauschen und anderweitig zu verwerten,
sodass man erst nach einigen hundert Kilometern liegen bleibt und
erneut einen Mechaniker braucht, womöglich mitten in der
Sahara?
Nicht auszudenken, Devisen, Devisen, mein Hirn brennt durch wie teile
des vor sich hin verreckenden Motors, Schauder laufen über
meinen
Rücken, mir ist glühend heiss. Das kann nicht wahr
sein. Die
verkohlten, milchblauen Gase brennen in Augen und Nase, ätzen
im
Gesicht. Le Jeune`s schwarzer, kurzgeschorener Kopf versinkt in den
blauen Gasen. Ich sage mehrfach Stopp, offenbar zu zaghaft angesichts
des Höllenlärms. Irgendwann schreie ich Philip an,
dass er
dem planlosen Herumstöpseln ein Ende setzen soll, aber der ist
wie
parallysiert von dem Geschehen, versteinert in seinem Wunsch nach
Vertrauen, das er stur aufrecht erhalten will wie die Fahnenstange der
letzten Hoffnung, und steht fassungslos daneben; das geht über
eine Stunde so. Ich bin am Rand der Toleranz, bis die
Rückfeuerung
derart drastisch wird. Kurz entschlossen ziehe ich den
Schlüssel
aus der Zündung. Schluss und fertig! Ich habe genug! Von
diesem
Verteilerdosengestöpselvodoo habe ich endgültig die
Nase
voll. Die Plymouth-Banjul-People gegenüber machen bereits
Witze ob
des Ernstes der Lage, dass wir etwas verspätet seien
für das
islamische Neujahr, erzählt mir später unser
deutscher
Nachbar Harald, der das Geschehen mit anderen Zaungästen aus
der
Ferne beobachtet, es sei sehr beängstigend gewesen, aber sie
hätten sich nicht einmischen wollen. Ihm hat ein Mechaniker in
Dakhla eine falsche Kupplung verkauft, mit der er sich zwar fortbewegen
konnte, ganze zweihundert Kilometer südlich, aber dann erneut
liegen blieb und abgeschleppt werden musste. Seine Gegenwart ist ein
wohltuender Beitrag zum Stelldichein der Gestrandeten und der Rastlosen
auf diesem Platz. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Wie sich
herausstellt, ist er Automechaniker, seit fünfzehn Jahren
Afrikatourist und in Liberia verheiratet, wo er vor ein paar Monaten
mit seiner Frau ein Stück Land gekauft hat am Meer. Aber in
das
Handwerk anderer wolle er sich nicht einmischen ohne gefragt zu sein.
Ich verstehe. In Deutschland kann ich mit meiner Frau nicht leben,
meint er nach drei Jahren des Versuchs, nun wollen wir es in Liberia
versuchen. Für mich ist das dort einfacher, als für
sie in
Deutschland. Seine Augen funkeln, er habe eine
Süsswasserquelle
auf seinem Land, und wolle die nötige Elektrizität
aus dem
steten Wind vom Meer gewinnen. Das tönt gut. Für
Momente
erhellt sich Phils Gesicht. Leider sei der Sack Kartoffeln dem eisigen
Wetter in den Pyrenaeen zum Opfer gefallen, die er habe pflanzen
wollen, fährt er fort, sie seien erfroren. Die Parallelen zu
unseren Träumen sind erneut erwacht. Er träumt nun
von
Apfelbäumen in Afrika, und denkt über die
nötige
Winterruhe nach und eine Ballwurfmaschine für
Schäferhund Leo.
Die vier Vodoomechaniker haben sich gemütlich auf dem Boden
niedergelassen. Da ich sie unerwartet ihrer Arbeit entledigt habe,
malen sie mit den schwarzen langen Fingern Kreise in den Sand. Zeichen
des Protests? Ihren Gesichtszügen ist keine Spur der
Entrüstung oder einer emotionalen Regung zu entnehmen. Die
kurzen
Wortwechsel unter ihnen zeugen nicht gerade von ermutigender Stimmung,
zumal ich alles mit der Kamera notiere, jede Menge Beweise, Beweise.
Als das Handy von Le Jeune klingelt, hängt er gleich wieder
ein;
die Kollegen, die auf der anderen Seite am Eingang des Platzes
auftauchen, hängen ebenfalls ihr Handy ein, herbeigerufen, um
den
Freunden aus der Patsche zu helfen und sie abzuholen. Sogleich springen
sie in ihre Schuhe. Ich protestiere, erfolglos. Eilig werden die
Werkzeuge geteilt und sondiert. Der Einbeinige, der mir aus seltsamen
Gründen sympathisch ist, hat bereits einen Diebstahlversuch im
Camper auf dem Gewissen, ausgerechnet nach den dummen Schrauben, mit
denen mein Schreibpult befestigt ist; ihn habe ich besonders im Visier,
aber eigentlich hätte ich nur gern seine Geschichte
gehört
über den Verbleib seines Beines. Kommentarlos ziehen die
Männer von dannen; zurück in die ölschwarzen
Garagen der
Nachbarstrassen, aus denen sie kamen, Bericht zu erstatten dem grossen
Samba, bei dem sie alle Arbeit gefunden haben und einen Hafen der
Zugehörigkeit, der Mercedes heisst. Am Ende der Strasse,
hinter
dem Müll der Stadt und den Silos, warten sie Stunden
später
am Gleis, um auf den letzten Zug aufzuspringen, der sie zur Eisenmine
bringt nach Choum; jenes einzigen Gleises, der die Barackenstadt mit
der schwarzen Sahara verbindet, weit den Schlund in die noch
schwärzere Nacht schiebend, Zug um Zug, Kran um Kran. Schwarz
der
Schwärze willen, der Schlacke aus Eisen und Glut, den Willen
der
Schwärze zu brechen, sie weich zu machen gegen die
Unerreichbarkeit der Sterne und die Unbeugsamkeit der Welt, kochend und
speiend, vor dem goldenen Glanz einer Mondnacht in Nouadhibou, in der
sich die Mädchen in tagblaue Seide gehüllt mit
Sternstaub im
Haar der Strasse zum Meer hin öffnen, wie sie sich winden und
schwingen, und Gelächter aus ihren Mündern quillt wie
Samen
aus den Schnäbeln aufgeregter Tauben, die in den Morgen
fliegen
des Tages danach.
SAMBA
Schwarz wie Kaffee, mit blutunterlaufenen, glasigen Augen und schwarzem
Cowboyhut, auf dem in weissen Lettern Cowboy steht, den er aus
Louisiana importiert hat obwohl er die Staaten hasst und den
Mississippi, bringt Samba seinen weissen Mercedes in einer wogenden
Staubwolke zu stehen, schlurft über den Platz in
Richtung
Toilette, und ward nicht mehr gesehen.
Während ich unsere drei neuen lettischen Nachbarn zur Linken
beobachte und sich meine Nerven bei dieser Beobachtung
allmählich
beruhigen, als der grösste unter den Kerlen mit weissem
Häkelhäubchen auf dem Kopf nach allen
Himmelsrichtungen
genüsslich und mit geschlossenen Augen die Zähne
putzt, den
Kopf neigend nach links für die linke Zahnreihe, nach rechts
für die rechte Zahnreihe, während auf der Frontablage
seines
Wagens, ein russisches Modell im amerikanischen Stil von 1965, der
Teekessel steamt und die Scheiben vernebelt, haben unsere selbst
ernannten Mechaniker bei ihrem rigorosen Vodooexperiment den
Verteilerfinger ruiniert; wir brauchen einen neuen. Von Samba keine
Spur. Telefone funktionieren plötzlich nicht mehr. Der
Verzweiflung sind kaum Grenzen gesetzt. Heute ist der fünfte
Sonntag in Nouadhibou. Die Letten verkaufen Phil die rettende Flasche
Vodka in Orginal Wüstenabfüllung in Plastikflasche,
die ihm
geringe Hoffnung gibt, das Dilemma einigermassen unbeschadet zu
überstehen. Einer der Typen ist mit dem Orient Express bis
nach
Sibirien gefahren, und beweist in seiner Erzählung einen
ausgesprochenen Sinn für Komik, als er die französ.
Rentner,
die im Norden Afrikas überwintern, mit ihren Wohnmobilen
beschreibt, wie sie sirrend die Satellitenschüsseln nach allen
Himmelsrichtungen aufstellen, bevor sie sich auf dem Platz postieren,
während sein Kollege aus altem Zeitungspapier eine neue
Schuhsohle
mit dem eigenen Fuss abmisst, und in Ermangelung einer Schere, die
Ecken mit den Fingern umknickt und das lütte Papier im Schuh
verstaut.
Philip traut den gebrauchten Ersatzteilen nicht, will lieber
über
einen anderen Mechaniker eine neue Verteilerdose besorgen lassen, von
dem er sich auch einen besseren Preis erhofft. Samba`s Wucherpreis hat
westliche Dimensionen erreicht, und das Mass an Toleranz
überschritten. Doch als ob das jetzt noch eine Rolle spiele.
Überzeugung mimend stimme ich dem Plan zu, einen anderen
Mechaniker als Samba mit unserem Problem zu beauftragen, denn wir
brauchen einen Mechaniker, der mechanische Probleme lösen und
nicht herstellen kann. Ibrahim, Wolf im Schafspelz und
ominöser
Hüter des Campgrounds, ist überall zugegen, wo er ein
Geschäft wittert und Not am Mann ist, um einen
Fünfziger
extra zu verdienen. Er bestellt uns kurzerhand den Mechaniker des
Campings, der allerdings könne sich erst übermorgen
ans Werk
machen, denn morgen sei Feiertag. Ein weiterer Tag des Wartens und
Hoffens geht ins Land.
Am Nachmittag des nächsten Tages erscheint der neue Mechaniker
und
Samba, den wir seit Stunden versucht haben zu erreichen, gleichzeitig
am Platz. Wenn man sich mit dem Teufel verabredet, kann man ihn kaum
verfehlen. Von allen Seiten bebellt parkiert der Neue in
gebührendem Abstand vor dem schwarzen Zorn auf der anderen
Seite
des Platzes. Seinen handabweisenden Bewegungen ist eindeutig zu
entnehmen, dass er mit Samba nichts zu tun haben wolle. Samba, in
seiner Ehre als Chef de la cusine garage mercedes ob dem unerwarteten
Wettbewerb restlos beleidigt, springt aus seinem froschgrünen
Mercedes, schreit und fuchtelt und lässt niemand zu Wort
kommen.
Er bellt mit den Hunden um die Wette. Er steigt von einem Bein aufs
andere und schippt mit den Sandalenspitzen Staubwolken in die Luft. Er
besteht auf der Theorie der Austauschbarkeit der
Zündkerzenkabel,
das habe nichts mit dem Backfire zu tun, er besteht auf der Richtigkeit
der Bestellung der Zylinderkopfdichtung, die habe nachweislich zwei
durchgebrannte Stellen; er sei der Chef und lasse sich von niemandem
ins Handwerk reden, und das Backfire-Feuerwerk sei normal. Er habe
seine Education in Holland an Benzinmotoren gemacht, und er wisse
genau, dass die Zündfolge keine Rolle spiele, danach habe er
fünfunddreissig Jahre lang Dieselmotoren beim Militär
repariert, er kenne alle Länder in Afrika; weiter
spezialisiert
habe er sich dann auf die örtlichen Dieselmotoren. Er wisse,
wovon
er rede. Das darf alles nicht wahr sein. Ich versuche mit ihm englisch
zu reden, da hebt er erst richtig ab. Er lasse sich nicht ins Handwerk
pfuschen und schon gar nicht die Arbeit teilen mit einem anderen. Das
sei ein Mangel an Vertrauen. Dabei hat er sicher nicht unrecht,
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Warum mir ausgerechnet auf
diesem schwarzen Kontinent all die weissen Sprichwörter in den
Sinn kommen, die ich seit Jahren nicht mehr erinnert habe; es ist
jedoch nicht die Schuld dieses Kontinents, vielleicht jener, die ihn
besuchen. Ohne ein Wort zu verstehen und mit indigniertem Blick steht
Le Jeune, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht ist, vor
seiner
grossen Verteidigung, und schnaubt die Nase in den Sand. Samba
gerät ausser sich. Schnaubend, mit blutunterlaufenen Augen
einer
Dogge, stösst er immer wieder provozierend mit dem Finger an
Philip`s Schulter, der dabei jedes Mal ein Stück
zurückweicht
und diesen Gemischtwarenregen aus Rassenhass, verletzter Ehre und
männlichem Stolz auf sich herabprasseln lässt, bis
Samba
wutschnaubend mit seinem Gefolge an Mechanikern und seiner blauen
Werkzeugkiste in einer Staubwolke verschwindet. Nun waren`s der
Mechaniker bereits drei. Der eine kommt, der andere geht. Die schier
nie versiegende Quelle von Automechanikern in Nouadhibou hat
Goldgräberqualitäten.
Den ganzen Tag regnet es. Der neue Mechaniker des Campings will erst
den Regen abwarten. Wir nicken verständnisvoll die
Köpfe,
selbstverständlich, den Regen abwarten, arbeiten in der
Nässe
ist nicht gut, nein, nein, wiederhole ich brummend, als es freundlich
an der Tür klopft, um uns die frohe Botschaft zu
überbringen,
dass der Neue nach dem Regen seine Arbeit aufnehmen wird. Wir kochen
Knoblauchsuppe mit Brotresten, die guten Regengeister zu vertreiben und
die Kälte aus den Gliedern. Am Spätnachmittag lichtet
sich
die Lage. Alle Hoffnungen sind nun auf unseren neuen Mechaniker
gesetzt, Mohammad der Vierte, genannt Waly. Waly ist gross und
behutsam, mit sonorer Stimme erklärt er unser Problem im nu zu
No
Problem, klopft Philip auf die Schulter, don`t worry, und legt Hand an
den Motor, an dessen Weiterleben wir schon kaum mehr geglaubt haben.
Jedoch der Motor ist zäher als wir dachten und scheint das
Einbautrauma unbeschadet überstanden zu haben; zwar ist das
noch
nicht ganz bewiesen ist, aber wir wollen fest dran glauben; der Glaube
heiligt die Mittel; was an Unglaublichkeit grenzt, war einen vollen Tag
lang nackte Wirklichkeit. Im westlichen, ruhigen Tonfall der
Überzeugung, wie es unseren müden Ohren schmeichelt,
erklärt er kurzerhand, dass die Zylinderkopfdichtung nicht das
Problem gewesen sei, die alte sei völlig in Ordnung, nachdem
er
sie eine Weile hin und her gedreht hatte, dass der Vergaser in Ordnung
sei, und beschreibt nachträglich das Problem mit der Mutter,
die
an den zwei Kerben einrasten müsse, sonst hüpfe der
Vergaserfinger immer wieder heraus. Nein, das sei es alles nicht
gewesen, das Problem sei der Kühler selber. Dieser sei
verrostet,
schau mal, und deutet mir durch die Öffnung auf die
rostbraunen
Schlitze, die aus dem Dunkel der Öffnung hervortreten. In
Zeitlupe
rolle ich meine Augen in den langen Schlitz und zurück unter
die
müden Lider. Ich glaube an Spuk, an eine Multiexistenz der
Götter und an die Verwandlungskünste deren Lehrer,
aber an
nichts mehr, was mir einer dieser mechanischen Vodookünstler
weismachen will. Die Zylinderkopfdichtung sei nicht das Problem gewesen
und wir haben also vier Wochen umsonst verschwendet mit Warten?, das
ist zuviel! Der Motor läuft, nun macht man sich am
Kühler zu
schaffen. Ich muss im eigenen Steckbrief meinen Namen nachlesen, muss
die verbrannten Stellen an der Dichtung suchen, muss den Rat der
Götter abfragen. Ich schüttele entsetzt den Kopf und
schalte
die Kamera ab. Der Wahnsinn hat viel Namen, und abertausende
Geschwister, aber nur einen Teufel. Die Stunde für eine
Teepause
ist gekommen. Ich überlasse das Feld den Männern, die
zwischen Harald`s Bus und unserem Mercedes hin und her springen wie die
tollenden Hunde nach den Spielbällen auf dem Platz.
Mittlerweile wird zum zweiten Mal am Bus unseres deutschen Freundes und
Leidensgenossen Harald das Getriebe ausgetauscht. Mit dem
Gemüt
eines alternden Rottweilers, der sein Revier kennt und während
der
Zähmung der Bestien im Lauf der Jahre seine Zähne
abgeschliffen hat, steht Harald bei mir in der Küche, den Tee
abwartend, ein wachsames Auge auf das Geschehen gegenüber
gerichtet. Schief und überladen steht sein Bus im Sand. Bis
nach
Liberia zu seiner Frau will er damit fahren, beginnt er zu
erzählen. Das hintere Rad sinkt tiefer in den weichen,
sandigen
Boden, und gerät in eine bedrohliche Schieflage. In Tanger
hätten ihn die Marokkaner nicht einreisen lassen, so sei er
den
ganzen Weg von Tanger nach Freiburg wieder zurückgefahren und
habe
den Bus getauscht gegen einen anderen. Seit Mitte Dezember sei er
unterwegs, nun ist Mitte Januar. Der benachbarte Engländer
springt
helfend mit einem Wagenheber zur Seite, das einzige Stück, das
an
gute europäische Wertarbeit erinnert. Er habe ein
Stück Land
gekauft, direkt am Meer, mit einer Süsswasserquelle. Er werde
den
dankbaren Blick seiner Frau nie vergessen. Aus dem steten Wind, der vom
Meer her weht, wolle er die nötige Elektrizität
gewinnen. Er
habe zwanzig Jahre als KFZ-Mechaniker in einer Renault
Werkstätte
gearbeitet; aber das Leben in Deutschland wäre für
seine Frau
schwieriger als wenn er in Liberia lebe. Ich höre ihm
angespannt
zu und beginne gerade, die Ablenkung zu geniessen, als
plötzlich
draussen lautes Geschrei anhebt. Schnell, schnell, lauf, sage ich zu
Harald, der bereits aus der Tür stürzt zu seinem Bus,
der das
Gleichgewicht verlor und unter lautem Gestikulieren der Männer
gestützt wird auf der einen Seite, die von allen Seiten herbei
gesprungen kommen und sich gegen die Fallseite des Busses
drücken,
der in eine bedrohliche Schieflage geraten ist. Ein improvisierter
Haufen Steine und übereinander geschichtetes Holz, das als
Wagenheber diente, war weggerutscht im Sand, zusammengebrochen unter
der Last, sodass das ganze Gewicht zusammenkrachte auf den unter dem
Wagen liegenden Jungen, während dieser gerade von unten am
Getriebe arbeitete. Dass er nicht bei lebendigem Leibe zerquetscht
wurde, grenzt an ein Wunder; doch dazu ist der Dünne bereits
zu
dünn.
Vielleicht sechzehn, höchstens achtzehn Jahre alt ist er, und
sie
rufen ihn den Dünnen, Le Maegre; einen anderen Namen scheint
er
nicht zu haben, noch auf einen anderen zu hören. Offenbar hat
er
keine Angehörigen. Seinem Boss, dem Mechaniker, der ebenfalls
an
Sambas Kompetenzen zweifelt, ist er tief ergeben; denn kein Laut des
Schreckens, der Klage, der Angst kommt von seinen trockenen Lippen, als
er unter den freiliegenden Gedärmen der über ihm
zusammen
gesackten Last hervor kriecht, kein Wort sagt der Erleichterung, kein
Wort der Entrüstung. Ein Aufatmen geht durch die
Männer,
jedoch keiner spricht mit ihm, klopft ihm tapfer auf die Schulter.
Keiner fragt nach ihm. Keiner wartet auf ihn, nicht mal sein Boss, denn
er ist immer da. Er rührt sich nicht von der Stelle. Er isst
nicht, schläft nicht. Sitzt neben dem Bus, bis in die Nacht
hinein, neben ihm eine Flasche Wasser, auf die er deutet, nachdem wir
ihn mit fünfhundert Oguya auf Nahrungssuche schicken. Er nickt
stumm und dankend und bleibt sitzen. Sein Boss, der Mechaniker, ist
nach Nouakhchott gefahren, um ein Teil zu holen, und er wartet. Wartet
Löcher in die Zeit und den Sand. Er ist das Negativ der
Andern. Er
ist der Dünne, mehr Erscheinung als Mensch, was zum Job
gehört. Und zum Job gehört, sein Leben zu riskieren
in der
Eigenschaft, dünn zu sein. Die Augen von einem Sehfehler
verdreht,
klopft er sich den Sand aus den Kleidern, steht binnen Sekunden wieder
auf den wackligen Beinen, läuft einmal um den Bus, um das
Gleichgewicht zurück zu gewinnen und setzt seine Arbeit fort.
Zwar
gesicherter, jedoch mit den gleichen halsbrecherischen
Hebebühnen,
die allesamt improvisiert sind aus den ausrangierten Getriebeteilen und
dazu quer verlegten Holzscheiten, oder lose zusammen gebackenen
Ytonsteinen, die im Sand verrutschen und zerplatzen wie Kirschkerne aus
der Frucht. Werden sie ungleichzeitig hochgebockt und eine Seite des
Wagens auf einer rostigen Türunterseite aufgesetzt, wobei das
Gewicht die Tür knarzend nach oben verschiebt, der Rost
einbricht,
und beinah nicht nur die Tür zusammenschiebt, sondern abermals
den
ganzen Bus diesmal auf die andere Seite kippen lässt. Wir
können nicht mehr zusehen. Le Meagre hat eine Quetschung
erlitten.
Am nächsten Tag verdreht er eigenartig die Hüfte,
wartet, und
schweigt.
Waly mittlerweile hat unseren Motor zum Laufen gebracht. Ich kann mich
kaum satt hören an dem schnurrenden Geräusch, das
immer noch
etwas sandig und rauh tönt, aber es tönt gut. Ob der
Sand in
meinem Ohren steckt oder im Motor oder beides, wage ich nicht mehr zu
unterscheiden. Immer wieder zieht er an der Zündvorrichtung um
den
Motor hoch zu drehen; kein Rückfeuern mehr, kein Stottern,
kein
Rauch. Die Freudentränen wären kaum zu
bekämpfen,
wären wir nicht bereits zu erschöpft, zu erschlagen
für
derartige menschliche Regungen. Wir zeigen Erleichterung. Waly
zündet sich eine Zigarette an. Seinen Gesichtszügen
sind
deutlich Entspannung und Zufriedenheit zu entnehmen. Er lehnt sich in
den Sitz zurück und beginnt zu erklären, was er von
Europäern gelernt hat, dass der Kühler innen
verrostet sei,
und deshalb das Wasser nicht richtig ventilieren konnte. Das zweite
Problem sei, dass er eine Mutter gefunden habe in der
Zündkerzenkapsel, die da absolut nicht hingehöre. Wer
immer
sie dort hineingesetzt habe, sie habe zur Folge gehabt, dass die
Zündfunken fehlschlagen und der Verteilerfinger immer wieder
herausgehüpft sei. Hineingesetzt habe? Dem Wort nachlauschen
kann
es nur einer gewesen sein. Ohnehin müssten wir das Thermometer
ausbauen, was alle Afrika Reisenden täten, die Temperatur
stiege
zu hoch, aber: maniana, maniana. Heute nicht mehr. Auf Phil`s Frage,
was er denn vom grossen Samba halte, meint Waly nur, er sei gris-gris,
wobei er den langen Daumen und den kleinen Finger weit von der
wippenden Hand abspreizt und dabei grinsend die Unterlippe flach ans
Kinn legt. Gris- Gris denke ich nachsinnend, das hat etwas zu tun mit
einem kleinen Kästchen, in dem der Medizinmann Opferrequisiten
aufbewahrt. Ohne mir die Details von Chimpansenpfoten und allerlei
organischem Gedärm auszumalen, wird mir einiges klarer. Er
wolle
noch den Kühler ausbauen und morgen auseinander nehmen lassen.
Die nötige Preisverhandlung, die besser im Voraus als im
Nachhinein getätigt werden sollte, verläuft im Sand.
Er
müsse den Kühler erst abliefern und reparieren, dann
könne er Auskunft über die Kosten geben. Ich ahne ein
nächstes Übel heraufbeschworen, das die
jüngste
Erinnerung an den Einbau des Motors weckt, jedoch bevor ich
protestierend einschreiten kann, ist der Kühler bereits im
pinkfarbenen Kofferraum von Waly`s Ente verschwunden und dieser mit
seinem Kollegen davon gedüst. Die Gewitterstimmung ist
perfekt.
Ein Problem scheint gelöst, nun haben wir ein anderes. Ein
Mechaniker kommt, der andere geht. Das Lied hat einen endlosen Refrain.
Ich habe Milchreis gekocht mit Äpfeln, weil mein westlicher
Verstand mir sagt, dass der nach viereinhalb Wochen Motorenvodoo
glücklich macht. In der Nacht regnet es wieder. Wir machen es
uns
mit Harald gemütlich, der sich allmählich von dem
Schock
erholt, dass beinah ein Mechaniker unter seinem Bus umgekommen
wäre, und sehr gesprächig wird. Er berichtet von
seiner
Liberianischen Frau, die drei Jahre während des
Bürgerkrieges
sich im Wald versteckt hat. Sie habe jetzt noch mit dem Trauma zu
kämpfen, schlafe nachts mit Radio ein, um Geräusche
des
Waldes oder der Tiere zu überdämpfen. Ihm sei dabei
einmal
passiert, dass er früh morgens aufwachte und glaubte vom
Radiowecker geweckt worden zu sein, mit dem er normalerweise seinen
Arbeitstag beginnt und er sei aus dem Bett gesprungen unter die Dusche
und habe sich eilig angekleidet. Aber er traue seiner Frau, die ihm
schon mehrfach das Leben gerettet habe. Ich muss nicht lange bohren,
als er mir die Geschichte mit dem Tschik erzählt, einer Art
linsengrosser Parasit, der sich unter seinem Fussnagel eingefressen
hatte, unsichtbar, schmerzlich, ein tödlicher Nagelgeist. Ich
muss
Dir den Nagel rausschneiden, sonst stirbst Du, habe seine Frau gesagt.
Er, der grosses Vertrauen hat zu seiner Frau, beisst die Zähne
zusammen, während sie mit einer Rasierklinge den Zehennagel
entfernt und ein linsengrosses weisses Etwas auf den Tisch legt, das
immer wieder wegflutscht, einfach nicht zu zerdrücken ist,
auch
nicht mit Löffeln. Sie machen ein Feuer, legen einen flachen
Stein
hinein, auf dem das Tschik erst nach einigen Minuten zerplatzt. Etwa
ein Jahr später war der Nagel nachgewachsen. Das Vertrauen
wurde
erneut auf die Probe gestellt, nachdem Harald eines Tages in Togo auf
einen Vodoo Markt ging, auf dem sie Körperteile von Menschen
als
Ritualopfer verkaufen. Seine Frau hätte ihn gewarnt, dort
nicht
hinzugehen, sie habe ihn mit allen Mitteln davon abhalten wollen, er
sei aber trotzdem gegangen und habe ihren Rat nicht befolgt. Nun
liessen die schrecklichen Erinnerungen nicht mehr von ihm ab, hingen in
seinen Träumen nach. Sie verkaufen Hände und
Füsse und
andere, potenzversprechende Gliedmassen, die in seinen Träumen
über Jahre von der Decke baumelten. Auch einen menschlichen
Schädel habe er gesehen. Die Kräfte seien ungeheuer.
Wenn er
schwer krank sei, und seine Frau empfehle ihm einen Vodooarzt,
würde er blind vertrauen.
Ob es an der ersten Flasche Rotwein lag, die wir zusammen seit Monaten
an diesem Abend geleert haben, oder daran, dass solche
Erzählungen
schlechte Träume nach sich ziehen, bin ich am
nächsten Morgen
mit verdrehtem Nacken und heissem Kopf aufgewacht, in den Ohren den
Motorenzauber der Nachbarn, die startklar machen zum langen Trip durch
Mauretanien und Mali, bis ans Ende der Sahara. Die Neuigkeit der Nacht
und Ergebnis der langen Standzeit: Es raschelt im Schrank. Wir haben
ein süsses Haustier, das sich alsbald zum Ruhe raubenden
Dämon entwickelt: eine Maus, zwei Mäuse, vielleicht
drei?
Nachtaktiv und rastlos an Papierrollen, Karton und
Plastikgegenständen knabbernd, hat sie offensichtlich den
richtigen Durchschlupf zum Brotspeicher gefunden, dabei einige Runden
gedreht, und kaum einen Winkel ausgelassen. Den Salzspeicher hat sie
auch schon entdeckt. Sie ist ein wahrer Höhenakrobat, und war
bereits im Hängeschrank. Nichts ist vor ihr sicher.
Mäusedreck überall, in Kümmelgrösse.
Zwinkernd traue ich meinen Augen nicht. Harald`s Bus bewegt sich gerade
zehn Meter von der Stelle und bleibt stehen. Das war wohl nichts.
Erster und zweiter Gang funktionieren nicht. Die Reifen werden wieder
abmontiert, und mit derselben ambulanten Absicherung der
Stützen
unter dem nachgiebigen Sand werden Getriebe und Antriebswelle wieder
ausgebaut. Den rabenschwarzen Gesichtern des Dünnen und seiner
Kollegen sind keine emotionalen Regungen zu entnehmen. Sie scheinen
müde. Bereits fünf Tage bemühen sie sich um
das
Getriebe. Es ist nicht ihre Schuld, und sie wissen nicht, wo der Fehler
liegt. Harald schlägt vor, die Antriebswellen auseinander zu
nehmen. Tatsächlich, seine mechanischen Kenntnisse
fördern
die letzte Wahrheit zu Tage. Die nüchterne
Befürchtung ist
traurige Wirklichkeit. In die Gelenkköpfe der Antriebswellen
haben
Mechaniker in Dakhla anstelle der üblichen Wagenschmiere
pfundweise teerartiges Silikon geschmiert, von dem zu erwarten ist,
dass es in kürzester Zeit aushärtet, aber immer hin
so lange
braucht zu diesem Prozess, bis man die nächsten hundert
Kilometer
gefahren ist. Es ist zum Heulen. Das klebrige
ölähnliche
Zeugs erstickt jeglichen Verstand, haftet gut und macht die Umdrehungen
geschmeidig, sodass man den Anschiss nicht bemerken soll. Wir sind
fassungslos. Die Antriebswellen müssen neu besorgt werden in
Nouadhibou, denn die sind nicht mehr zu gebrauchen. Doch die
gibt
es hier nicht. Mohammad, der Boss des Dünnen tritt die
langwierige
Reise nach Nouakhchott an, und von dort nach Dakar im Senegal. Der
Dünne sitzt wie die Tage zuvor ergeben im Sand, die
Wasserflasche
neben sich gelehnt, und wartet, bis sein Meister zurückkehrt
und
ihn erlöst.
Zwei weitere Tage gehen ins Land. Die Mulis blöken durch die
Nacht, angebunden an Meister und Mehlsack. Am nächsten Morgen
ist
Lieferung auf dem Markt.
Am späteren Abend klopft es an unsere Tür, es ist
bereits dunkel. Meister Mohammad ist freudestrahlend aus
Dakar
zurückgekehrt, und erkundigt sich nach Harald. Ich schicke ihn
in
die Küche des Campings, in der ich Harald vermute.
Bei uns ist die Stunde der Mäusejagd angebrochen. Es raschelt
im
Brotschrank, vor dem wir notgedrungen den Bleizusatz für den
Motor
geparkt haben. Wir rühren uns nicht von der Stelle, ich lege
den
Finger auf den Mund, pssst, da ist sie, und deute Phil auf die untere
Tür zu seinen Füssen, während die andere
Hand nach der
Taschenlampe greift. Ich reisse die Tür auf; für
Bruchteile
von Sekunden Aug in Aug mit der Maus, für Bruchteile von
Sekunden
balanciert sie auf dem Gaskannistergeländer, starrt ins Licht,
aus
dem ich komme; die weit aufgerissenen feuchten Knopfaugen funkeln mich
an, ihr Näschen rümpft sich dem eindringenden Geruch
entgegen. Ihre Makellosigkeit, das glänzende, dunkle Fell,
ihre
Elastizität, ihre Ausdauer, die mit uns auf die Probe gestellt
ist, springen mich an, wer zieht den Kürzeren? Ist sie
stärker als ich? Ihre Waffen gegen meine Waffen, Schlauheit
und
Schnelligkeit gegen menschliche Logik? Antreten bitte! Das drohende
Gemetzel verspricht nicht gut auszugehen. Der Ring ist 2,20m x 5,70m,
mit gesicherter Springhöhe für Mäuse bis zum
Küchenschrank. Ich bin ihr so nahe mit dem Gesicht, dass ich
mich
bereits gebissen fühle und sie an meiner Nase zappeln sehe mit
ihren flinken Beinchen und ihrem langen Schwanz, der mir sanft ans Ohr
peitscht. Plötzlich macht sie einen Satz und ist auf und davon
am
Lichtkegel der Taschenlampe vorbei durch den Türschlitz, und
in
der Ritze unter dem Gascompartment verschwunden.
Unerlaubtes Verschwinden wird als Kriegserklärung geahndet!
Gibt
es noch mehr der süssen Ungeheuer, die sich mittlerweile in
den
Sahararhythmus des Campers eingeschaukelt haben? Ist sie
multiplizierbar mit drei, gibt es vier mal vier Beinchen, die durch
zwei Schränke und drei Truhen jagen und vier mal vier
Zähnchen, die sich durch jede Öffnung beissen und wer
weiss
was noch anrichten können. Das Echo tönt aus allen
Ecken. Sie
fiepsen in der Nacht; was sich wie Schnupfen anhört oder eine
Mäuseerkältung, ist vermutlich Kommunikation
untereinander
über den wunderbaren Brotspeicher, der sie die
grässliche
Knallerei unseres Motors vergessen lässt. Sie müssen
ein
wahres Trauma durchlitten haben. Sie räuspern sich, schaben
und
kratzen munter durch die Nacht und unseren Schlaf, als wäre
nichts
gewesen; das Mitleid ist auf der falschen Seite. Die Mäuse
beweisen sich als reisefertig, durchgeschüttelt und
silvesterfest.
Sie sind knall erprobt und CO2 resistent; ausserdem schätze
ich
sie wohlgenährt und kräftig. Unser Motorenvodoo hat
offensichtlich keine abschreckende Wirkung gezeigt; nichts kann sie
einschüchtern, vertreiben; nun steht uns das
Mäusevodoo
bevor. Wir müssen sie so schnell wie möglich
loswerden. Der
Schaden ist weder einzugrenzen noch abzusehen.
In einer vorgetäuschten Killerlust werde ich kreativ. Ich habe
eine Falle ausgeheckt. Ich plaziere einen Eimer der Länge nach
in
den Lieblingsschrank der Maus, in dem die klebrige Falle liegt; am Ende
des langen Eimers klebt ein grosser Brotbrocken als Lockmittel, in der
Hoffnung, dass sich die Geruchszonen durchmischen und der Duft des
Brotbrockens dominiert. Phil hat das Zeugs chinesischer Herkunft auf
dem Markt in Nouadhibou gekauft. Die Gebrauchsanleitung auf der
Rückseite der Packung ist atemberaubend einfach: die beiden
Papierteile auseinander ziehen und die klebrige Todesfalle
über
Nacht in der Mäuse Lieblingsschrank plazieren. Am
nächsten
Morgen Maus aus dem Papier entfernen und Vorgang wiederholen, wobei die
chinesische Skizze eine Mauszange benutzt, die ebenfalls auf dem Markt
erhältlich ist. Allerdings ähnelt dieses
Todeswerkzeug eher
einer Gabel. Ob es an Mangel an Begeisterung lag oder an meinem Unmut
am Töten im Allgemeinen, der versprochene Erfolg hat sich in
dieser Nacht nicht eingestellt.
Der Morgen nach dem ersten Tötungsversuch.
Ein junger circa sechzehn jähriger Mann mit schwarzem Turban
und
Kautabakstengel zwischen den Lippen liegt bereits unter dem Motor, noch
ehe ich die Augen geöffnet habe. Am rechten Fuss
trägt er
einen Sportschuh von Niki, am linken eine Birkenstocksandale. Waly
kauert im Motorraum und dirigiert seinen Gehilfen auf der anderen
Seite, den rostgereinigten Kühler von unten zu verschrauben,
während er gleichzeitig bemüht ist, mit einer Hand
seinen
Turban nicht in den Sand fallen zu lassen. Waly von innen, schraubt und
dreht in einer mir nicht zugänglichen Tiefe des Motorraumes,
bis
er schliesslich den Anlasser betätigt. Der Motor startet,
läuft einwandfrei, es ist nicht zu fassen. Nach einer kurzen
Probefahrt, in der Wolfsschaf Ibrahim mit Philip Kühlmittel
kaufen
geht, eine Flüssigkeit im gleichen verdächtigen
Lichtblau der
Kaftane, bekommt Waly seine fünfundzwanzigtausend Oguya und
zieht
freudestrahlend von dannen. Wir tauschen noch das gesamte Wasser des
Kühlers gegen das eisblaue Kühlerwasser aus den
Plastikkanistern, unverdünnt, wie es auf der
Rückseite
angeraten wurde, und machen eine weitere Probefahrt in Richtung
Bahnstation, an der heute mehr Ziegen warten als Menschen. Doch zu
früh gefreut. Wir erreichen kaum die Gleise nach wenigen
hundert
Metern, als sich ein unüberhörbares
Klappergeräusch
bemerkbar macht. Wir werden nervös. Auch ist der
Temperaturanzeige
nicht eindeutig zu entnehmen, ob sie nun eingebaut oder bereits
ausgebaut ist; der Pegelanzeiger klettert auf vierzig Grad und mehr.
Phil schaut sich die Sache an und stellt fest, dass die
Verankerungsschrauben des Kühlers nicht angezogen sondern nur
lose
hineingesteckt waren. Er ist in rage; hätte er nicht das
Geräusch wahrgenommen und wäre skeptisch geworden,
der
Kühler hätte sich beim nächsten abrupten
Bremsen aus der
Verankerung gezogen und wäre in weniger als hundert Metern in
den
Propeller des Motors gekippt. Alles andere erübrigt sich von
selbst. Der Schaden wäre grösser denn je zuvor.
Unsere
Fassungslosigkeit kennt keinen Boden mehr und keine Gnade. Wir fahren
zurück auf den Platz. Die Sache ist heiss. Phil wittert
Schlimmstes, dass man uns erneut hereingelegt hat; ich male mir aus,
dass sie uns den Kühler ausgetauscht haben gegen einen alten,
bei
dem die Temperaturanzeige nicht funktioniert, da sich die Nadel um
keinen Zentimeter über den normalen Bereich bewegt. Der
Paranoia
ist Tür und Tor geöffnet. Unsere Nerven sind blank.
Fest
steht, keine der ortsansässigen Vodookünstler wird je
wieder
Hand an den Motor legen, so wahr uns Gott helfe. Phil schraubt den
Kühler erst lose, um zu prüfen, ob das auch unser
eigener
ist, aber es sieht ganz danach aus, und montiert das Teil fest hinter
der Motorhaube.
Eine weitere Probefahrt folgt, und immer noch haben wir ein
eigenartiges Klappergeräusch im Ohr, nur rauher, unbestimmter,
bis
uns klar wird: unser Motor tönt nach einem hechelnden
Volkswagen
Motor, nicht nach dem vor sich hin schnurrenden Mercedes Benziner,
dessen Geräusch ich im Schlaf vor mir her schnurren
könnte.
Wir besprechen dieses Problem mit Harald, der vom Fach ist. Ergebnis
der langen Untersuchung: Philip nimmt den ganzen Motor wieder
auseinander. Mit aller Vorsicht und Konzentration, die ihm in der
Stunde der letzten Verzweiflung übrig geblieben ist, werden in
der
Verteilerdose die Unterbrecher Kontaktabstände neu gemessen,
die
Muttern der Zylinderköpfe neu angezogen Dank Harald, der das
passende Werkzeug dafür mitgebracht hat, der Kompressionsdruck
gemessen, als auch die Grundeinstellung des Zündzeitpunkts neu
ausgerichtet. Die Ölhahndichtung habe ich in der Not noch
schnell
selbst hergestellt aus dem mitgebrachten Blei, das wir in Frankreich
einmal der Absicherung des Batterieladegerätes wegen gekauft
haben. Phil lobt meinen praktisch graphischen Verstand, der bei all dem
mechanischen Vokabular von einem Schwindelanfall zum nächsten
taumelt. Jeder kleinste Rest an Material liefert einen Beitrag zum
Überleben, allein Allah kann Wunder bewirken; wie oft er durch
wessen Hand davon Gebrauch macht, ist eine Frage der Mechaniker.
Die Tage des Bangens und der Ungewissheit ob eines glücklichen
Ausgangs sind gegen Null geschrumpft. Die Testfahrt tags darauf
lässt den letzten Zweifel versiegen; der Motor
läuft
einwandfrei. Ob er längerfristigen Schaden genommen hat, mag
sich
erst nach einigen tausend Kilometern herausstellen. Wir gewinnen
zunehmend den Eindruck, dass man uns allmählich loswerden
will.
Selbst in Nouadhibou Stadt geht bereits die Kunde von unserem Problem;
wohl der einzige Mercedes mit Benzinmotor, ja ja, hier fahre man
Dieselmotoren, wippt uns Wolfsschaf Ibrahim mit dem Finger an die
Windschutzscheibe, sichtlich erfreut, dass die Kiste wieder
läuft,
da er nun entscheidend dazu beigetragen hat; umgeben von einem Heer an
blauen Kaftangesichtern in bester Händlerlaune, die gerade
ihre
letzte Chance sehen, uns etwas zu verkaufen, allerdings nicht zum
ersten Mal. Ibrahim signalisiert Philip, dass er persönlich
Samba
bezahlen wolle, und er solle ihm das Geld geben, immerhin habe Samba
den Motor ausgebaut und das Problem entdeckt. Vor lauter Angst, von mir
gebroadcasted zu werden, was er eingangs triumphierend voller
Stolz verkündete, er käme jetzt europaweit ins
Fernsehen,
will er also das Geld von Ibrahim erhalten. Der mächtigste
Mann
der schwarzen Garagen Nouadhibous fürchtet die Rache des
Fernsehgottes, dessen Gunst er zornerfüllt verspielt zu haben
glaubt. Als ich zur Toilette gehe an diesem Mittag, finde ich
ein
kleines blauweiss gestreiftes Kästchen auf dem Fenster stehen,
das
in unsere Richtung offen steht, oberhalb der Wasserspülung.
Ich
blicke gebannt auf das kleine Kästchen, nehme es in die Hand.
Die
Mittagsonne fällt auf meine Hände und direkt in den
geöffneten, wackeligen Deckel, der mit kleinen Zeichen
bekritzelt
ist und aus dem purpurne, schmierige Stofffetzen ragen, auf ein
zehengrosses verkohltes Stück Holz, oder eine holzartig
verkohlte
Zehe?, rissig und dunkel, einen trockenen Mumiengeruch absorbierend.
Mit weit aufgerissenen Augen, das dumpfe Schicksal ahnend in
Sekundenbruchteilen, kann ich im Nachhinein nicht entscheiden, ob jener
Geruch meiner Wahrnehmung entströmt ist, oder aber
tatsächlich dem Kästchen. Der Reflex meines
Zeigefingers, der
eilig den Deckel zuklappte, war schneller, als mein analytischer
Verstand gebraucht hätte, diese Frage zu klären. Mit
einem
nachdrücklichen Ruck postiere ich das Kästchen
zurück in
den Tabernakel der Fensterablage wie einen Kelch nach der Kommunion,
und verfehle dabei die flache, rutschige Ablage um wenige Zentimeter,
sodass das Kästchen auf den Boden schmettert mit dem gleichen
Getöse, wie es mir noch von dem Rückfeuer unseres
Motors im
Ohr liegt. Dabei rollt die schwarze Zehe direkt ins schwarze Loch der
Toilette, wo sie plumpsend und blubsend verschwindet. Die schwarze
Messe ist vorbei, aufgelöst in Schall und Rauch.
Mein Pulsschlag erhöht sich, nachdem ich langsam beginne,
wieder
normal zu atmen. Meinen Händen ist die sandige Trockenheit
gewichen; sie müssen etwas berührt haben, dass das
organische
Leben auf unfreiwillige Weise verlassen hat; ein bebender Hauch
glüht in meinen Fingerspitzen, als ich zurück laufe
zu Phil
und den anderen, die immer noch um unseren Camper herum stehen und mit
wohlwollenden Vokabeln alle Mechaniker von Nouadhibou loben angesichts
der Verhältnisse und der schwierigen Umstände, ein
halbes
Jahr nach dem Regierungsputsch, bekräftigend unter ewigem
Lächeln, dass das alles No Problem sei.
Unserem Freund Harald sind mittlerweile die Antriebswellen für
seinen Bus geliefert worden. Der Einbau zum Glück
verläuft
ohne weitere Komplikationen; auch er kommt freudestrahlend von seiner
Testfahrt zurück. Seine Frau habe er schon angerufen und ihr
berichtet, dass alles in Ordnung sei und er nun die Weiterreise
antreten könne. Über Nacht bestätigt sich,
auch das
Mäusevodoo hat sich verflüchtigt. Die reisefreudigen
Mäuse haben das Weite gesucht; seit drei Tagen schlafen wir in
raschelfreier Zone. Morgen, wenn die Nacht uns neue Kraft schenkt und
der Ruf der Weite den müden Geist besiegt hat, wollen wir
gemeinsam weiter ziehen gen Ende der Sahara Occidental und der Grenze
zu Mali, in Richtung Sierra Leone.
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